work-Kommentar:

Macrons Verantwortung

Oliver Fahrni

Oliver Fahrni, Frankreich-Korrespondent work

Was steckt hinter dem raschen Aufstieg von Eric Zemmour? Sicher seine ohrenbetäubende Medienpräsenz. Und die Unterstützung von Teilen des Grosskapitals, das ihm neuerdings höfelt.

Eine andere oberflächliche Antwort wäre: Sein Aufstieg zeigt die tiefe Krise der französischen Gesellschaft. Drei von vier Fran­zösinnen und Franzosen gaben im August 2021 an, das Land befinde sich unaufhaltsam im Niedergang. Im vergangenen Jahr wurden 1186 französische Politikerinnen und Politiker mit dem Tode bedroht oder tätlich angegriffen, teilte das Innen­ministerium gerade mit. Da nützt alles Grossgerede und Ordenverteilen des Präsidenten nichts. Auch Emmanuel Macron bekam seine Ohrfeige ab, und während der Revolte der Gelb­westen musste er Fluchthelikopter zum Elyséepalast beordern. Da brodelt schon länger was.

Drei von vier Französinnen und Franzosen finden, das Land befinde sich im Niedergang.

MACRONS ANGRIFF. Also sollten wir genauer hinschauen. Marine Le Pen, die Führerin der rechtsextremen Partei RN, machte bereits 2017 fast 11 Millionen Stimmen, obschon sie im TV-Duell gegen Macron abgestürzt war – und Linke wie bürgerliche Rechte gegen sie mobil machten. In Wahrheit legen die Rechts­extremen seit zwei Jahrzehnten stetig zu.

Aber Macron gewann 2017 gerade noch, und er verschärfte das neoliberale Regime. Eine ganze Generation war in kapitalistischen Krisen gross geworden. Die Sozialdemokraten, die sich in Frankreich noch Sozialisten nennen, boten längst keine Alternative mehr, denn sie hatten sich hinter der neoliberale Doktrin eingereiht. Kein Wunder also, peilt die Kandidatin der Partei, Anne Hidalgo, nun gerade noch die 6-Prozent-Grenze an.

Macron schaffte sofort die Reichtumssteuer ab, kippte Wohnbeihilfen und andere Sozialleistungen und zerschlug mit einer weiteren Reform der Arbeitsgesetze den Schutz der Arbeitenden. Dann senkte er die Steuern und Abgaben für Reiche und Unternehmen weiter. Sein nächster Angriff zielte auf den Service public, zuerst auf die Eisenbahner, dann die Post, die öffentliche Schule und das Gesundheitssystem (sogar in der Covid-Krise macht er weiter Spitalbetten zu). Derweil flossen die Suvbentionen an die Konzerne so reichlich, dass sich die Aktionärinnen und Aktionäre in Macrons Amtszeit mehrere Hundert Milliarden Euro Dividenden auszahlen konnten. Und, weil er die Kapitalgewinnsteuer schleifte, dafür nur minimal versteuern mussten. Jobs schuf das kaum. Dennoch strich er das Arbeitslosengeld massiv zusammen und lässt gerade Hunderttausende aus der Arbeitslosenkasse werfen (das Gesetz ist seit 1. Januar in Kraft). Und nur die Pandemie stoppte Macrons geplante Rentenreform.

MACRON SPIELT RECHTS. Dies alles hat ihm den Ruf ein­getragen, der Präsident der Ungerechtigkeit, der Präsident der Reichen zu sein. Tatsächlich schwollen die Vermögensunterschiede an. Und die Armut.

Klar, mobilisierte dies, neben den Gelbwesten, vielfältigen Protest. Macron liess sämtlichen Widerstand von der Polizei brechen. Frankreichs Polizei wird im April, wie eine Umfrage zeigte, zu 72 Prozent Le Pen oder Zemmour wählen. Nicht genug: 200 Generäle und hohe Offiziere der Armee drohten öffentlich mit einem Putsch, um die aufmüpfige Gesellschaft zu zähmen.

Macrons Problem ist, dass verschärfte Sicherheitsgesetze und Polizei allein die Sache nicht richten. Denn der neoliberale Kapitalismus hat in den Augen einer grossen Mehrheit jede Legitimität verloren. Das hatten schon die Väter des Neoliberalismus wie Friedrich Hayek und Milton Friedman vorausgesehen und formuliert: Diese Form des Kapitalismus ist mit der Demokratie nicht kompatibel. Es braucht eine autoritäre Wende.

Die wird, wie das Beispiel Trump zeigt, zuerst als Kulturkampf ausgetragen. Macron begann die Themen der Rechts­extremen zu bespielen. Islam, Migration, Sicherheit, kritische Wissenschaft. Mit einem Gesetz «gegen Separatismus» stempelte er den Islam, nicht nur den Islamismus, zur gefährlichen Bedrohung. Sein Innenminister warf Marine Le Pen vor, in dieser Frage etwas schlapp zu sein. Le Pen wunderte sich, quasi im Schlafwagen zu rechtsradikalen Themen gefahren zu werden.

Gegen die kritische Produktion der Wissenschaft schickte Macron seinen Bildungsminister aus. Seither werden an den Universitäten Forschungskredite gekappt, Jobs umbesetzt, und wer trotzdem noch einen kritischen Ton wagt, wird als «Islamo-Linker» plattgemacht – auch wenn sein Thema nichts mit dem Islam zu tun hat.

Der bekannte Ökonom und Ungleichheitsforscher Thomas Piketty notierte zur Jahreswende in der Zeitung «Le Monde»: «Macron trägt eine erdrückende Verantwortung am Rechtsrutsch der politischen Landschaft.»

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