Editorial

Welche Freiheit?

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

Was für ein Sommer! Er fiel buchstäblich ins Wasser. Regen, Regen, Regen, Fluten und Hagelstürme. Mordio und Totschlag: Wir werden das Bild dieses gigantisch gähnenden Erdlochs von Erftstadt in Nordrhein-Westfalen nie mehr vergessen. Eine ganze Häuserzeile wurde einfach verschlungen. Deutschland sah plötzlich aus wie ein Entwicklungsland.

Nicht so schnell loslassen werden uns auch die Bilder der wütenden Waldbrände auf der griechischen Insel Euböa: Dieses lodernd lechzende Feuer. Diese verbrannte Erde. Diese erbarmungslosen Naturgewalten. Und wir Menschen ganz klein. Hilflos klein. Wieder hilflos klein. Wie schon beim Überfall von Corona.

Der Countdown läuft: bei Klima und Corona.

ALARMSTIMMUNG. Der Countdown läuft. Das zeigt der neuste Bericht des Weltklimarates: Was wir wettermässig soeben erleben, ist der radikalste Klimawandel seit Jahr­mil­lionen. Und er ist menschengemacht! Selbst im besten erwartbaren Fall werden Stark­niederschläge und Hitzewellen bereits in nächster Zeit häufiger auftreten und Intensitäten von bisher ungekanntem Ausmass erreichen. Dies gelte gerade für die Schweiz. Alarmstimmung zu Recht also.

Der Countdown läuft. Können wir die Impf­quote in den nächsten Wochen nicht massiv steigern, erwartet uns ein heftiger Herbst.

Es drohen immer noch mehr noch aggressivere Virus-Mutationen. Umso mehr, wenn es uns, im reichen Norden, nicht gelingt, die Menschen im armen Süden ebenfalls zu impfen, indem wir Millionen von Impfdosen gratis abgeben. ­

Sie demonstrieren für den Zugang zu Impfstoffen (zum Beispiel in Thailand), während bei uns gegen das Impfen die Strassen gestürmt werden.

Nirgendwo in Westeuropa gibt es mehr Impffaule als in der Schweiz. Dennoch möchte der Bundesrat da nicht ein bisschen nachhelfen. Im Gegenteil: Er kuscht vor den «Normali­täts»-Dränglern der Wirtschaft und den Impf­gegnerinnen und -gegnern. Diese haben halt gegen das Covidgesetz das Referendum ergriffen – und könnten es in der Abstimmung im November sogar zu Fall bringen. Schweizer Polit-Ranggen «as usual». Derweil sich die SVP grad an die Covidioten ranmacht. Quasi ein Jungbrunnen für eine ausgetrocknete Partei. Jetzt brüllen sie es im Kanon: «Endlich Normalität!», «Endlich Freiheit!».

FREIHEIT, BRÜDERLICHKEIT, GLEICHHEIT. So wollte es die Französische Revolution von 1789. Endlich Freiheit («Liberté!») fordern jetzt auch Tausende Protestierender in Frankreich. Befreiung von Präsident Emmanuel Macrons giftiger Impfpolitik. Sie ist eine unsoziale Verwirrpolitik, analysiert work-Korrespondent Oliver Fahrni.

Und sie treibt die Menschen scharenweise in die hartrechten Arme von Le Pen und Co. Befreiung vom Macron-Virus verlangen aber auch die französischen Gewerkschaften.

Ihre nicht ganz einfache Botschaft: «Impfen ist notwendig, aber sie muss im Rahmen einer sozialen Gesundheitspolitik geschehen!»

Freiheit, Solidarität, Gleichheit: Warum rufen heute so viele einseitig nur nach der Freiheit? Und nicht gleichzeitig auch nach den zwei anderen demokratischen Grund­werten? Nach Brüderlichkeit, sprich: Solida­rität? Nach der Einbettung des Ichs in eine gesellschaftliche Perspektive? Und nach Gleichheit? Denn die drei sind untrennbar mit­einander verbunden. Bei Klima und Corona.

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