So war der 5. Unia-Kongress:

Eine toxische Ehe, ein Klassenfeind und ein Fitnessprogramm

Marie-Josée Kuhn

Die Pandemie machte es möglich: den ersten virtuellen und dezentralen Unia-Kongress. An 14 Orten in der Schweiz versammelten sich je bis zu 80 Delegierte real und waren per Livestream miteinander und mit der Kongressleitung in Biel verbunden. 

DIGITAL UND DEZENTRAL. Der 5. Unia-Kongress war eine technische Herausforderung. Die bravourös gemeistert wurde. (Foto: Unia)

Und es klappte wunderbar: ein paar Pännchen, aber keine Pannen, geschweige denn ein Super-GAU. Nein, den Organisatorinnen und Organisatoren unter Tätschmeister Philippe Müller, der den Kongress auch zielsicher durch die Abstimmungsstrudel lotste, gebührt ein riesiger Applaus. So staunten die fast 300 Delegierten über diese höhere Zoom-Kunst, sichtlich froh, wieder einmal aus der Corona-Starre raus und in die 4 Resolutionen, 17 Anträge und 2 Ordnungsanträge reinzukönnen.

Zum Beispiel in jene der Unia-Jugend, die munter auf die Klassenkampfpauke haut. Und sich mit der «Sozialpartnerschaft» anlegt (siehe Seite12). Marius Käch aus der Region Zürich-Schaffhausen nennt diese eine «toxische Ehe mit den Chefs» und fordert: «Wenn die Chefs Sturm säen, dann sollen sie auch Sturm ernten!» Also bitte streiken statt kuscheln!

Überhaupt gibt Käch bereits in seinen Begrüssungsworten Rot-Vollgas: «Liebe Kolleginnen und Kollegen», beginnt er ganz gewerkschaftskonform, doch dann fährt er fort: «und liebe Genossinnen und Genossen der Partei der Arbeit!» Er sei Maurer und Kommunist, und als solcher möchte er jetzt mal etwas Grundsätzliches sagen.

Ist es Zufall, dass sich auch die Simultanübersetzerin aus dem Italienischen nicht ans Gewerkschaftsprotokoll hält? Und «cari colleghi e care colleghe» systematisch mit «liebe Genossinnen und Genossen» übersetzt? Oder ist sie vielleicht auch Übersetzerin und Kommunistin?

Höhere Zoom-Kunst für 4 Resolutionen, 17 Anträge und 2 Ordnungs­anträge.

RAUS AUS DER BUBBLE!

Der zweite Streich der Jugend folgt sogleich: Delegierte Naomi Brot vertritt den Ordnungsantrag: «Wir verlangen die sofortige Ausladung von Bundesrat Guy Parmelin als Gastredner am Kongress», erklärte sie. Schliesslich sei dieser von der SVP und ein «Klassenfeind». Solchem «Schabernack» müsse sofort ein Ende gesetzt werden.

Das ist für die Kongressmehrheit dann doch etwas zu starker Tobak. Auftritt des «mittelalterlichen» Delegierten Simon Schulz: Unter jeder Kanone sei das, sagt er ins Mikrophon. Eine Ausladung Parmelins wäre nicht nur unhöflich, sondern auch eine Desavouierung der Geschäftsleitung, die den Bundesrat eingeladen habe. Schulz: «Hey, ihr müsst mal aus eurer Bubble rauskommen und die Realität sehen!» Gelächter, Applaus, Pfiffe und Abstimmung.

Parmelin darf dann doch kommen und reden. Und er tut dies mit maximal einschläfernder Rede. Gott sei Dank redet anschliessend einer, der das einfach kann: der oberste Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard. Er spricht frei, frank und mitreissend. «Wer braucht jetzt ein Fitnessprogramm?» fragt er. Und spielt damit auf eine kürzlich erhobene Forderung von FDP-Präsidentin Petra Gössi an. Maillard: «Brauchen vielleicht die Kolleginnen und Kollegen in der Pflege jetzt ein Fitnessprogramm, um effizienter und länger arbeiten zu können? Oder die Bauarbeiter? Die Verkäuferinnen? Oder die Kollegen in der Logistik? Ausgerechnet jetzt, nachdem sie in dieser schweren Krise alles gegeben und auch gelitten haben? Wie kann das die Chefin einer Partei, die ernst genommen werden möchte, jetzt nur fordern?» Was die Schweiz jetzt brauche, seien weder Lohnsenkungen noch Rentenabbau. Sondern mehr Solidarität, mehr Bildung und Investitionen, mehr Service public und mehr Chancengleichheit. Wer das nicht begreife, der brauche das Fitnessprogramm!

VANIA IST SPITZE!

Vania ist Sptze! Und jetzt kommen die Wahlen. Und jene Wortmeldungen aus der Basis, die ans Herz gehen. Besonders jene der Bauarbeiter, die sich für die Wiederwahl von Bau-Chef Nico Lutz starkmachen. Nicht eloquent, da in einer Fremdsprache, nicht geschliffen, aber träf wie Bauarbeiter João de Carvalho Figueiredo aus Genf: «Nico ist gut im Austeilen, aber auch im Einstecken.» Wenn das keine Punktlandung ist! Und weiter: «Er redet mit uns in einem anständigen Ton, was auf dem Bau nicht ganz geschenkt ist», sagt’s und tritt ab. Oder die abtretende Präsidentin der IG Frauen, Ursula Mattmann, die für die Wiederwahl von Vania Alleva als Unia-Präsidentin wirbt: «Vania ist einfach Spitze», ruft sie. Kein Geheimnis, dass Mattmanns grosses Herz nach der Wahl der neuen Geschäftsleitung noch mehr überlief. Erstmals haben die Frauen an der Unia-Spitze nämlich die Mehrheit (siehe diese Seite oben rechts).

Und dann neigt sich der 5. und 1. digital-dezentrale Kongress auch schon dem Ende zu. Doch halt, wo ist Köbi Hauri? Er will doch noch reden? «Köbi Hauri, bist du bereit?» tönt die Kongressleitung. Stille. «Hallo, Köbi Hauri, wir hören dich nicht!» Stille. «Köbi Hauri, hast du vielleicht das Mikrophon stumm gestellt?» Stille. «Köbi Hauri, wir hören dich immer noch nicht! Ist vielleicht das Zoom-Mikrophon in der Berner Zentrale stumm gestellt?» Stille. «Köbi Hauri, jetzt müssen wir leider … oh, Köbi Hauri, Köbi, jetzt hören wir dich! Du kannst sprechen!» Und Köbi Hauri erhob seine Stimme.


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