Krebsarzt Franco Cavalli (78) über schädliche Pharma-Patente:

«Beim Patentschutz ist die Schweiz einer der grössten Taliban»

Jonas Komposch

Immer mehr Länder ­wollen das geistige Eigentum an Medikamenten und Impfstoffen gegen ­Corona ­aufheben. Doch die Schweiz sträubt sich. Das sei brandgefährlich, erklärt Onkologie-Professor Franco Cavalli im work-Interview.

FRANCO CAVALLI: Der 78jährige Tessiner ist Arzt, Onkologie-Professor und Präsident des Hilfswerksverbunds Medicuba Europa. (Fotos: Keystone / Getty)

work: Herr Cavalli, sind Sie schon geimpft?
Franco Cavalli: Komplett!

Aber nicht etwa mit dem kubanischen Vakzin Soberana 2? Sie als ­medizinischer Kuba-Berater sind doch häufig dort.
Nein, als ich im Winter in Havanna war, befand sich dieser Impfstoff noch in der Testphase.

Die Karibikinsel gibt ja ordentlich Gas in der Impfstoffproduktion. Was ist der aktuelle Stand?
Vor wenigen Tagen hat in Kuba die grosse Impfkampagne begonnen. Bis August soll die gesamte Bevölkerung immun sein. ­Danach geht Soberana 2 auch in den Export.

Ist Kuba also der Beweis, dass arme Länder die Covid-Krise selbständig meistern können?
Keinesfalls! Die wenigsten Entwicklungsländer sind fähig, einen Impfstoff zu entwickeln. In Kuba ist das möglich, weil ­Fidel Castro 1982 einen wegweisenden Beschluss fasste: Der Inselstaat sollte zu den Pionieren der Biotechnologie vorrücken. Noch im gleichen Jahr eröffnete in Havanna das Zentrum für Gen- und Biotechnologie (CIB). Es begann eine immense Forschungstätigkeit, und heute sind Biotech-Produkte das wichtigste Exportgut Kubas. Im Westen der Hauptstadt ist ein regelrechter Pharma-Hub mit 20’000 Mitarbeitenden entstanden. Viele von ihnen forschen schon lange an Impfstoffen. In Kuba sind 13 Impfungen obligatorisch, 9 davon stammen aus heimischer Produktion. Als erstes Land überhaupt brachte Kuba einen Impfstoff gegen Hirnhautentzündung hervor. Diese Grundlagen fehlen anderen armen Ländern.

In vielen Ländern gibt es noch überhaupt keinen Corona-Impfstoff, erst 4 Prozent der Weltbevölkerung sind geimpft …
… alles ginge viel schneller, wenn der Patentschutz aufgehoben würde. Indien zum Beispiel ist zwar eher schwach in der medizinischen Grundlagenforschung, hat aber eine riesige Pharma­industrie. Diese könnte innerhalb kürzester Zeit Milliarden von Impfdosen ­kopieren.

Schon heute ist das indische Serum­institut der grösste Corona-Impfstoffhersteller der Welt. Der Pharmakonzern Astra Zeneca lässt dort produzieren.
Ja, aber die Kapazitäten sind noch lange nicht ausgeschöpft. Ausserdem hat Indien die Exporte derzeit weitgehend gestoppt, weil die Seuche dort derart aus dem Ruder läuft. Jetzt rächt sich, dass ein Grossteil der Impfversorgung der Welt allein von Indien abhängt. Was uns übrigens auch die Pharmamultis und reiche Industrieländer wie die Schweiz eingebrockt haben. Sie blockierten einen Vorschlag der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese wollte mit dem «Covid-19 Technology Access Pool» (C-TAP) Wissen bündeln, die Produktionslizenzierung erleichtern und den Technologietransfer beschleunigen. Weil aber viele Pharmanationen ihr Veto einlegten, fiel letztlich ein Grossteil der globalen Impfstoffproduktion einem einzigen Hersteller zu, dem indischen Serum­institut.

Warum trifft es eigentlich Indien jetzt so schlimm?
Noch sind im Land keine drei Prozent vollständig geimpft. Weil für Premierminister Narendra Modi, einen rechtsextremen Hindunationalisten mit diktatorischen Phantasien, die Konzerninteressen an erster Stelle stehen. Er hat den indischen Impfstoff mehrheitlich ins Ausland verkauft und gleichzeitig die Gefahr von Corona heruntergespielt. Die aktuelle Todeswelle hat Modi mit seiner Wahlkampagne sogar selbst befördert. Für seine Propagandaveranstaltungen trommelte er Hunderttausende Menschen zusammen.

Die Lobby der Pharma ist heute noch mächtiger als jene der Banken.

Zurück zum Patentschutz: Haben Pharmafirmen denn kein Recht darauf, ihre Entwicklungen zu schützen?
Juristisch betrachtet schon. Doch ethisch ist es absolut verwerflich. Und medizinisch fahrlässig! Je länger die Pandemie andauert, desto grösser ist die Gefahr, dass sich neue, aggressivere Mutationen entwickeln. Auch könnten sich Resistenzen gegen die verfügbaren Impfstoffe bilden. Der Impfnationalismus der reichen Länder ist deshalb sehr kurzsichtig.

Aber Bundespräsident Guy Parmelin sagt: «Ohne Patente keine Inno­vation.»
Ich kenne nicht einen Forscher, der nur arbeitet, wenn er patentieren kann. Dasselbe gilt auch für Forscherinnen. Das Patentieren dient allein der Absicherung der überrissenen Monopolpreise. Und dem Abschöpfen von dem, was andere erforscht haben.

Wie bitte?
Der Mammutanteil aller medizinischen Innovation ist das Resultat von staatlich finanzierter Forschung. Nehmen Sie die Messenger-RNA, die Grundlage für die gefeierten mRNA-Impfstoffe von Pfizer-Biontech und Moderna. Sie wurde 1961 entdeckt mit ausschliesslich öffentlichen Geldern Frankreichs und der USA. In den 1990ern verstand man schliesslich, wie die mRNA für Medikamente zu gebrauchen ist – wieder dank staatlich finanzierten Instituten. Die grossen Pharmakonzerne investieren wenig in die Forschung. Viel mehr ins Marketing! Innovationen schaffen die kleinen Unternehmen – und die werden dann geschluckt von den grossen, die sich nur um ihre steigenden Aktienkurse kümmern.

Also eine Art kapitalistische Denkfaulheit?
Durchaus! Oft wird Innovation durch die Konzernmacht sogar verhindert. Weil es nicht darum geht, was die Menschheit am dringendsten braucht. Sondern dar-
um, was am meisten Profit abwirft. Wir sehen das auch in der Onkologie: Krebs ist bei Kindern zum Glück sehr selten, aber er kommt vor und ist oft tödlich. Die Tumoren von Kindern unterscheiden sich erheblich von jenen der Erwachsenen. Es brauchte also mehr Forschung hierzu. Daran haben die Pharmariesen aber wenig Interesse. Weil der Markt zu klein ist.

Schon über 100 Staaten fordern die Lockerung des Patentschutzes für coronabezogene medizinische Produkte. Neuerdings wollen sich sogar die USA dafür starkmachen. Und schon zeigt auch die EU Gesprächsbereitschaft. Eine historische Kehrtwende?
Ja, Joe Biden hat den Mut gefunden, der Obama fehlte. Dieser wagte es damals nicht, die Medikamentenpreise zu regulieren. Aber der heutige US-Präsident steht eben unter massivem Druck der demokratischen Linken um Senator Bernie Sanders und der Abgeordneten Alexandra Ocasio-Cortez. Ihr wichtigstes Wahlversprechen war die Regulierung der Pharmabranche. Zudem will Biden mit diesem populären Schritt der weltmachtpolitischen Konkurrenz aus China und Russland entgegenwirken.

Ganz anders die Schweiz. Auf immer einsamerem Posten will der Bundesrat am Patentschutz fest­halten. Erstaunt Sie das?
Überhaupt nicht. Die Schweiz gehört seit je zu den radikalsten Taliban des Patentschutzes. Ich gebe ein Beispiel aus dem Jahr 2015: Ein patentiertes Krebsmedikament von Novartis kostet einen Kranken 3500 Franken – im Monat! Weil sich Kolumbien das nicht leisten kann, strebte das Land eine Zwangslizenz an. Mit einer solchen Lizenz dürfen notleidende Mitgliedstaaten des sogenannten TRIPS-Abkommens billigere Generika kaufen. In diesem Fall ein indisches Produkt, das einen Zehntel des Novartis-Preises kostet. Doch der Basler Konzern schickte sofort seine Lobbyisten nach Bern. Es ging nicht lange, und der Bundesrat drohte Kolumbien, die Entwicklungshilfe zu kürzen. Damit war die Zwangslizenz vom Tisch.

Die Schweiz muss den Vorschlag zur Patentschutz­aufhebung für Corona-Impfungen unterstützen.

Wie gross ist denn der Einfluss der Pharmaindustrie in Bundesbern?
Enorm! Die Lobby der Pharma ist heute noch mächtiger als jene der Banken. Pharmavertreter sind im Parlament Dauergäste und bearbeiten jede Parlamentsfraktion intensiv. Das hat auch mit den wachsenden Milliardenumsätzen und den irrsinnigen Gewinnspannen zu tun. In Deutschland etwa ist die Pharmaindustrie in dieser Hinsicht bereits potenter geworden als die Automobilindustrie. Und in den USA ist Big Pharma seit 30 Jahren der wichtigste Sponsor der republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Diese haben als Dank sämtliche Preisregulationen von Medikamenten abgeschafft. Heute können die Amerikaner Preise machen, wie sie lustig sind. Das ist ein globales Problem, denn der US-Markt bestimmt den Weltmarktpreis. Wer diesen nicht zahlen will oder kann, geht leer aus.

Ausser das betreffende Land ­erlangt eine Zwangslizenz. Welche Erfahrungen gibt es damit?
Zwangslizenzen sind immer mit einem langen juristischen Hickhack verbunden und daher sehr schwer durchzusetzen. Der heutige Patentschutz basiert ja auf den Doha-Beschlüssen der Welthandelsorganisation (WTO) aus dem Jahr 2001. Diese besagen, dass in bewiesenen Notsituationen der Patentschutz aufgehoben werden kann. Der berühmteste Fall betraf die HIV-Epidemie in Süd­afrika. Präsident Nelson Mandela verlangte damals eine Zwangslizenz, damit sein Land Medikamente gegen Aids kaufen konnte. 39 Pharmamultis, angeführt von Roche, prozessierten dagegen. Letztlich mussten die Konzerne aber einlenken.

Aber in der aktuellen Notsituation tut die Schweiz ja nicht nichts. Sie beteiligt sich an Covax, dem Programm für eine global gerechtere Impfstoffverteilung.
Mit gerade mal 20 Millionen Franken! Covax ist ein Tropfen auf den heissen Stein und kommt zudem nicht vom Fleck. Ausserdem ist die Schweiz nicht uneigennützig dabei. Zwanzig Prozent ihres eigenen Impfstoffbedarfs will sie über Covax decken. Letztlich führt nichts an der Frage des Patentschutzes vorbei.

Wollen Sie die medizinischen Patente etwa vollständig abschaffen?
Ja! Sie schaden der Menschheit. Gesundheit ist das höchste Gut überhaupt, ein Menschenrecht! Private haben in diesem Bereich eigentlich nichts zu suchen. Die Pharmaindustrie muss von der Allgemeinheit kontrolliert werden und soll dieser dienen. Gesundheit kommt vor Profit. Punkt.

Aber die Schweiz hat in Europa die meisten Patentanmeldungen pro Kopf. Ein Grossteil der Patente betrifft den biomedizinischen Bereich. Ginge mit ihrer Abschaffung der Pharmastandort nicht vor die Hunde?
Nein, denn wir erzielen regelmässig akademische Bestleistungen. In Relation zur Bevölkerungszahl hat die Schweiz europaweit am meisten ERC-Grants inne, also EU-Auszeichnungen für wissenschaftliche Exzellenz. Ausserdem gibt es lukrative Alternativmodelle zu Patenten: Wer forscht, soll für seine Erfindungen zwar materiell belohnt werden, aber kein Patent darauf beanspruchen können. Auch Josef Stiglitz fordert das seit langem, der Ex-Chefökonom der Weltbank.

Gut, aber was muss die Politik jetzt sofort anpacken?
Das Parlament muss dem Bundesrat Beine machen! Die Sommersession steht bevor. Die Schweiz muss den Vorschlag zur Patentschutzaufhebung für Corona-Impfungen unterstützen. Das ist das mindeste!

Franco Cavalli

Franco Cavalli (78) ist Arzt und Onkologie-Professor. Bis 2017 war der Tessiner wissenschaftlicher Direktor des ­onkologischen Instituts der italienischen Schweiz (IOSI). Mit seinen 18 internationalen Auszeichnungen gehört er zur Weltspitze seines Fachs. Als Gesundheitspolitiker wirkte der überzeugte ­Marxist zwölf Jahre für die SP im Nationalrat. Cavalli ist Präsident des ­Hilfswerksverbunds Medicuba Europa.


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