USA: Arbeitskampf beim Onlineversand-Giganten Amazon in Alabama

Davida gegen Goliath

Lotta Suter

Der Versandriese ­Amazon wehrt sich in den USA mit Händen und Füssen gegen die Organisierung seiner Mit­arbeitenden. Doch ausgerechnet im gewerkschaftsfeindlichen Südstaat Alabama bieten diese ihm die Stirn.

ARBEITERINNEN GEGEN AMAZON: Die Mehrheit der Amazon-Mitarbeitenden in Bessemer, Alabama, sind afroamerikanische Frauen. Und diese wollen gesehen und angehört werden – und einen menschenwürdigen Job. (Foto: democracynow.org)

Wenn Jennifer Bates (48) und ihr Arbeitskollege Darryl Richardson (51) im Amazon-Warenlager in Bessemer, Alabama, auf die Toilette gehen, sind selbst die Wände des stillen Örtchens mit Antigewerkschaftspropaganda vollgepflastert. Der betriebsinterne Abstimmungskampf über den Beitritt zur Gewerkschaft läuft auf Hochtouren. Noch vor Ostern wird entschieden, ob Amazon zum ersten Mal in seiner 27jährigen Firmengeschichte eine Gewerkschaft als Gesprächspartnerin akzeptieren muss.

«Wir wollen wie Menschen behandelt werden!»

BESSERES VERDIENT

Stuart Appelbaum ist Sekretär der relativ kleinen, aber dynamischen Dienstleistungsgewerkschaft RWDSU, die die Organisierungskampagne beim Versandriesen Amazon begleitet. Er erklärt: «Es geht um die Zukunft der Arbeit, denn Amazon verändert einen Wirtschaftszweig nach dem andern.» Die Amazon-Lageristin und Gewerkschaftsaktivistin Jennifer Bates sagt es etwas handfester: «Amazon-Mitarbeitende wollen gesehen und angehört und wie Menschen behandelt werden.» Kollege Darryl Richardson doppelt nach: «Die machen uns zu Robotern. Wir haben Besseres verdient.» 85 Prozent der Amazon-Mitarbeitenden in Bessemer sind afroamerikanisch. Die Mehrheit der Beschäftigten ist weiblich. Ihr Wohn- und Arbeitsort ist ein ehemaliges Zentrum der Stahlverarbeitung. Bessemer ist bloss eine von vielen heruntergekommenen und verarmten Industriestädten, die in den letzten Jahren praktisch über Nacht zu «Company Towns» (Firmenstädten) von Amazon wurden. Die umstrittene Logistikzentrale nahm im März 2020, kurz nach Ausbruch der Pandemie, mit 1500 Arbeitskräften den Betrieb auf. Und wie die meisten der über achthundert Amazon-Abwicklungsfilialen in den USA wurde auch dieser Standort in der Folge rasch erweitert. Letztes Jahr stellte Amazon weltweit über 437’000 neue Arbeitskräfte an. Das ist ein Rekordzuwachs, wie ihn bisher nicht einmal der Einzelhandelskonzern Walmart, der grösste ­private Arbeitgeber der Welt, in der gleichen Zeitspanne geschafft hat. Für viele US-Amerikanerinnen und -Amerikaner bedeutete ein Job bei Amazon die Rettung in der pandemiebedingten Not.

Doch es war bloss eine Rettung auf Zeit. Schon bald wütete Corona auch in den hektischen Amazon-Lagerhallen. Über 20 000 Personen sind da bisher angesteckt worden. Und bis heute beschweren sich Amazon-Angestellte über fehlende Schutzmassnahmen gegen das Virus und über nicht ausbezahlte Krankentage.

DIE GEWERKSCHAFTSSPRENGER

Amazon-Boss Jeff Bezos hingegen steht als strahlender Corona-Gewinnler da: Dank der Pandemie ist sein Onlinegeschäft prächtig aufgeblüht. Und sein Vermögen hat sich in der Krise um mehrere Dutzend Milliarden Dollar vermehrt. Bezos ist heute der reichste Mann der Welt und verfügt über schätzungsweise 200 Milliarden Dollar. Mit der Hälfte dieses Geldes könnte er weltweit allen Amazon-Mitarbeitenden, über einer Million Menschen, je eine Corona-Prämie von 100’000 Dollar ausbezahlen. Das tut er natürlich nicht. Im Gegenteil setzt er alles daran, die Lohnabhängigen in Zukunft noch effizienter auszubeuten und noch höhere Profite zu machen. Das heisst vor allem auch: keine Gewerkschaften zuzulassen. Allein in Alabama budgetiert Amazon zurzeit mehrere Tausend Dollar pro Tag und Person für sogenannte Union Busters (Gewerkschaftssprenger).

Die systematische und professionalisierte Gewerkschaftsbekämpfung hat in den USA Tradition. Vor gut hundert Jahren heuerten die Unternehmen Schläger­typen an, die organisierungswillige Arbeiterinnen und Arbeiter ganz einfach vermöbelten oder gar umbrachten. Heute stellen mächtige Konzerne wie Amazon hochgebildete und hochbezahlte Experten an, die die Mitarbeitenden mittels Psychologie und Überwachung mass­geschneidert in den ­sozialen Medien und an obligatorischen Betriebsversammlungen einschüchtern. Das klappt erstaunlich oft: Da heute nur noch zehn Prozent der US-amerikanischen Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert sind, wissen viele, vor allem jüngere Menschen, kaum mehr aus eigener Anschauung, was eine Gewerkschaft ist und was sie für die Arbeitenden tun kann.

Etliche frühere Organisierungsversuche in US-amerikanischen Amazon-Betrieben sind denn auch ­gescheitert schon bevor es zu einer Abstimmung der ­Beschäftigten kam. Doch jetzt hat Alabama das Eis ­gebrochen. Amazon-Angestellte in Baltimore, New ­Orleans, Portland, Denver und Südkalifornien und anderswo denken bereits laut über einen eigenen Organisierungsversuch ihrer Amazon-Standorte nach.

Dabei hatte sich der expandierende Versandkonzern in Bessemer genau gleich präsentiert wie auch in anderen ökonomisch unterentwickelten Regionen der USA: als Arbeitgeber mit einem guten Anfangslohn von 15 Dollar in der Stunde und grosszügigen Sozialleistungen. Das ist ein attraktives Angebot in einem US-Bundesstaat wie Alabama, wo der Minimallohn von 7 Dollar 25 (6 Franken 70) seit 2009 unverändert tief geblieben ist. Wo nach dem Niedergang der Stahlverarbeitungsindustrie hohe Arbeitslosigkeit herrschte. Wo die Leute existentiell auf Amazon angewiesen waren und deshalb tun würden, was man von ihnen verlangte. Bessemer war 2019 von der US-Wirtschaftszeitung «Wall Street Journal» zur «unattraktivsten Stadt Alabamas» gekürt worden. Mit dieser Not rechnete der Grosskonzern.

85 Prozent der Mitarbeitenden
von Amazon in Bessemer sind
afroamerikanisch.

BLACK LIVES MATTER

Doch die Amazon-Strategen haben in ihrer Lagebeurteilung Verschiedenes falsch eingeschätzt:
Erstens wurde übersehen, dass eine ehemalige Industriestadt oft auch eine ehemalige Hochburg gewerkschaftlicher Aktivität ist. In Bessemer sind es oft die Onkel und Tanten, die Grossväter und Grossmütter, die den jüngeren Arbeitskräften nahelegen, wie wichtig Gewerkschaften sind. Und wie sehr diese ihnen gerade in Krisenzeiten zu einem guten Leben verholfen haben. Aussenstehende sind oft erstaunt über diese starke Gewerkschaftstradition in Alabama, wo noch bei der Wahl im letzten November 62 Prozent der Leute für Donald Trump gestimmt haben. Doch die Leute vor Ort erinnern sich durchaus daran, dass die Eltern der Kolleginnen und Kollegen mit den besseren Häusern und Autos in gewerkschaftlich organisierten Betrieben gearbeitet haben. Sie hatten eine gutbezahlte Stelle bei der Eisenbahn, im Kohleabbau, in der Stahlindustrie oder bei der Alabama Telephone Company.

Zweitens ist zu beachten, dass der Amazon-Standort Bessemer ein Vorort von Birmingham ist, einem Zentrum der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Für die afroamerikanische Amazon-Belegschaft und auch für die sozial engagierte Dienstleistungsgewerkschaft RWDSU ist der Kampf um menschenwürdige ­Arbeitsbedingungen ohne Dauerüberwachung und zermürbende Schikanen nicht bloss eine Geldfrage, sondern auch eine Stellungnahme gegen die Fortsetzung des alten Rassismus mit neuen Mitteln. Black Lives Matter – schwarze Leben sind wichtig. Dieser politische Anspruch gilt auch für die Arbeit im Amazon-Warenlager. Alabama mag insgesamt konservativ sein, doch schwarze Menschen wählen in der Regel linker und gewerkschaftsfreundlicher als ihre weissen Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Und drittens haben sich während der Regierung Trump und besonders im letzten Jahr die Ungleichheiten und Widersprüche in der US-Gesellschaft verschärft. Gleichzeitig ist auch der Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit stärker geworden. Die grosse Mehrheit der US-Bevölkerung ist froh, dass der kleine David – oder genauer die kleine Davida – in Bessemer den Kampf gegen den grossen Amazon-Goliath aufgenommen hat. Denn die Frauen wehrten sich an vorderster Front für bessere Arbeitsbedingungen. Und prominente Sportler und Filmstars zeigen sich solidarisch mit den Amazon-Mitarbeitenden. Der neugewählte US-Präsident Joe Biden höchstpersönlich sprach sich in einem Video für das Recht aller «Arbeitnehmerinnen und ­Arbeitnehmer in Alabama» auf gewerkschaftliche Organisierung aus. Linke Politikerinnen und Politiker – unter ihnen auch Bernie Sanders, der sozialistische Senator aus Vermont – sind nach Alabama gereist, um die grösste Gewerkschaftskampagne seit mehr als zwanzig Jahren zu unterstützen.

Wie auch immer die Amazon-Abstimmung in Bessemer ausgeht, die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung der USA ist ausgerechnet im «gewerkschaftsfeindlichen Süden» zu neuem Leben erwacht.


Amazon Italien:Zehntausende im Streik

AMAZON-STREIK: «Gesetze und Schutz für Arbeitende».

Von den Verteilzentren bis zu den Fahrerinnen und Fahrern, die die Pakete nach Hause liefern: Zehntausende Amazon-Mitarbeitende in ganz Italien legten am 22. März ihre Arbeit nieder. Mit dabei beim Protest gegen Stress, Eintönigkeit und überbordende Arbeitszeiten war in der Stadt Passo Corese in der Nähe von Rom auch Francesca Gemma (30). Sie arbeitet seit 2017 in einem Verteilzentrum und sucht bestellte Waren heraus und verpackt sie. Der italienischen Tageszeitung «La Repubblica» sagte Gemma: «Wenn du beim Picken beschäftigt bist, musst du dieselbe Bewegung acht Stunden lang in einer Art Käfig machen. Es gibt keine Alternativen. Nach wenigen Tagen schmerzen die Arme, der Rücken, die Knie.» Auch andere Beschäftigte klagen über körperliche Schmerzen und psychische Schwierigkeiten.

Zum Streik aufgerufen hatten drei italienische Transportgewerk­schaften, weil laufende Verhandlungen mit dem US-Konzern gescheitert waren. Dieser hatte sich stur geweigert, die Vorschläge der Beschäftigten und ihrer Organisationen aufzugreifen. «Die Beteiligung am Streik ist unterschiedlich, aber wir liegen bei 70 bis 75 Prozent», sagte der Generalsekretär der Gewerkschaft FILT-CGIL, Stefano ­Malorgio, dem Nachrichtensender RAI News 24.

GRUSSBOTSCHAFTEN. Aus aller Welt erreichten die Streikenden Solidaritätsbekundungen von Amazon-Beschäftigten und Gewerkschaften. Auch die Unia gratulierte den Streikenden in ihrer Grussbotschaft «zu ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit», sich zu wehren. «Es ist ein historischer Tag für alle Plattform-Mitarbeitenden weltweit», so die grösste Schweizer Gewerkschaft. Litten diese doch unter immer noch mehr brutalem Zeit- und Lohndruck. Speziell in diesen Coronazeiten.


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