Weil Fremdenfeindlichkeit nicht mehr so richtig zieht, setzt die SVP jetzt auf Corona. Und hofft damit, bei «Corona-Skeptikern» und den Opfern ihrer eigenen Wirtschaftspolitik zu punkten. Zündelt sie noch, oder zündet sie schon an
BERN – WASHINGTON: Die Kuppel des Bundeshauses lehnt sich an jene des Capitols an. Wie weit lehnen sich die Schweizer Rechtsnationalisten noch an jene in den USA (im Bild) an? (Fotos: Getty Images / Wikipedia, Montage: TNT Graphics)
Als vor rund einem Jahr Corona über die Schweiz kam, ging die SVP für Monate unter. Nach einem letzten Aufbäumen, das zum Abbruch der letztjährigen Wintersession führte. Angeblich wegen der Pandemie. Tatsächlich aber, um die Überbrückungsrenten für ältere Arbeitnehmende bis nach der Abstimmung über die Kündigungsinitiative zu verzögern. Was nicht gelang, weil die Abstimmung über die Kündigungsinitiative wenig später auch wegen Corona vorschoben wurde. Und statt am 17. Mai erst am 27. September krachend scheiterte. In Coronazeiten kam das Politikmodell der SVP ins Stottern: «Fremde» und «die EU» als Sündenböcke zogen nicht mehr so gut. Dafür wurde deutlich, wofür sich die Führungsriege der Blocheristen wirklich interessiert: Klientelpolitik für Milliardärinnen und Millionäre, internationale Konzerne und Immobilienhaie.
Roger Köppel bezeichnete die Debatte über das Corona-Gesetz als …
NOT AUSNÜTZEN
Hunderttausenden von Menschen in diesem Land geht es wegen der Massnahmen zur Pandemiebekämpfung finanziell schlechter als vor einem Jahr. Das müsste nicht sein. Das Geld für eine angemessene Entschädigung von Lohnabhängigen und Selbständigen wäre vorhanden. Doch die rechte Mehrheit im Bundeshaus lässt die Betroffenen im Regen stehen. Bremst, klemmt oder lehnt ab bei 100-Prozent-Kurzarbeitsentschädigung für Löhne bis 5000 Franken, beim Mieterlass für pandemiebedingt geschlossene Restaurants und Läden. Und findet es völlig in Ordnung, wenn Firmen vom Bund zwar Kurzarbeitsentschädigung beziehen, gleichzeitig aber Dividenden an ihre Aktionärinnen und Aktionäre auszahlen. Vorne dabei bei all diesen Entscheidungen: die SVP. Und ihr Finanzminister Ueli Maurer.
«AUFHÄNGEN»
Die Verzweiflung bei vielen Menschen wächst. Doch manche von ihnen richten ihren Zorn auf die Falschen – den Bundesrat und seine Massnahmen zur Pandemiebekämpfung. Und schon hat die Milliardärspartei SVP ihre neuen Sündenböcke gefunden. Statt den «Fremden» schiesst sie jetzt permanent gegen die eigene Regierung. Im Bundesrat hat die Rechte mit zwei SVP- und zwei FDP-Mitgliedern zwar die Mehrheit. Aber Fakten haben die SVP noch nie gestört. Und den grössten Teil ihrer Stammwählerinnen und Stammwähler auch nicht.
Deren Ton wird immer rauer. Politiker und – vor allem – Politikerinnen, die nicht in der SVP politisieren, werden übelst beschimpft, beleidigt und bedroht. Auf den sogenannten sozialen Medien, in Mails oder per ganz traditionelle Post. Da liegt dann auch mal ein Strick im Paket mit der Aufforderung «sich aufzuhängen».
«… grössten parlamentarischen
Freiheitskampf seit dem Jahr 1848»
«DIKTATUR»
Klar verurteilen SVP-Exponentinnen und -Exponenten die Aktionen solcher «Einzelfälle». Und radikalisieren sie kräftig weiter. Beispiel Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher: Die SVP-Erbprinzessin und ihr Vater Christoph bezeichnen Gesundheitsminister Alain Berset (SP) als Diktator. Beispiel Nationalrat Roger Köppel: Der SVP-Verleger forderte die Wirtinnen und Wirte zum Rechtsbruch auf. Und bezeichnete die parlamentarische Debatte über das Corona-Gesetz als den «grössten parlamentarischen Freiheitskampf in der Schweiz seit 1848». Beispiel Nationalrat Thomas Aeschi: Der SVP-Fraktionschef trat in der nationalrätlichen Fragestunde derart unflätig auf, dass es dem höchsten Schweizer Andreas Aebi reichte. Er ist ein Berner SVPler – und rief zur Mässigung auf.
Nun hat die SVP in den Jahrzehnten ihres Aufstiegs die Grenzen des öffentlich Sagbaren stets weiter eingerissen: doch jetzt scheint sie sich definitiv an Figuren wie dem abgewählten US-Präsidenten Donald Trump zu orientieren. Der hatte während seiner Amtszeit die Stimmung im Land immer mehr aufgeheizt. Auch er hatte Politik für die Milliardäre gemacht und die Verzweiflung der Gering- und Mittelverdienenden auf Sündenböcke gelenkt. Seine Abwahl akzeptiert er bis heute nicht und behauptet – zigfach widerlegt – finstere «linke Mächte» hätte ihn um den Sieg betrogen. Wohin solche Rhetorik bei verzweifelten oder verwirrten Menschen führen kann, sah die Welt am 6. Januar: Ein fanatisierter Mob von Trump-Fans stürmte das Capitol in Washington, wo das nationale US-Parlament sitzt. Es gab Tote.
Bundeshaus: Alles nur geklaut?
Das Berner Bundeshaus wurde in mehreren Etappen gebaut. Als letzter Teil der Parlamentstrakt. Also jener Teil, der heute als Bundeshaus erkannt wird. Er wurde zwischen den beiden bereits bestehenden Verwaltungsgebäuden erstellt und am 1. April 1902 offiziell eröffnet. Der Bau kostete 7,2 Millionen Franken, was heute ungefähr 700 Millionen entspricht. Über 16 Prozent der Kosten wurden in die künstlerische Ausstattung investiert.
CAPITOL. Entworfen hat das Bundeshaus Hans Wilhelm Auer. Dieser «orientierte» sich stark am US-amerikanischen Parlament, eben dem Capitol in Washington.