USA: Das Ende von Trump ist nicht das Ende des Trumpismus

Die amerikanische Krankheit

Oliver Fahrni

Zwar will der neue US-Präsident Joe Biden sofort nach seiner Vereidigung eine Salve von Dekreten abfeuern, die besonders üble Trump-Beschlüsse rückgängig machen. Und ein 1,9-Billionen-Dollar-Paket durchsetzen, das vielen Menschen Verbesserungen bringt. Doch: Das allein kann das zerrissene Land nicht heilen.

NICHT GANZ WEG. Nach vier Jahren und gezählten 30’000 Lügen musste Donald Trump das Weisse Haus für den Demokraten Joe Biden räumen. Trotzdem: Trumps Linie ist und bleibt die Leitschnur der Republikanischen Partei. (Foto: Getty)

Manchmal machen ein paar Sekunden Geschichte. Sicherheitsleute konnten den US-Vizepräsidenten Mike Pence und die Sprecherin der Demokratischen Partei, Nancy Pelosi, gerade noch rechtzeitig in Schutzräume bugsieren, als bewaffnete, rechtsextreme Anhänger von US-Präsident Donald Trump am 6. Januar das US-Parlament (Capitol) stürmten. Die «weissen Terroristen» seien nur 20 Meter hinter ihnen gewesen, sagte später ein FBI-Mann. Hunderte von Parlamentarierinnen und Parlamentariern rannten um ihr Leben und verbarrikadierten sich.

Aufgetauchte Videos zeigen, dass in Washington kein entfesselter Mob wütete, sondern mehrere gut organisierte Gruppen. Militärische Kommandos werden gerufen, gezielt potentielle Geiseln gesucht, Dokumente fotografiert. Jemand legte zwei Rohrbomben. «Dies ist eine Revolution», schrie eine Angreiferin in die Kamera.

Doch am Ende scheiterte die Geiselnahme der US-Abgeordneten durch die Trumpisten. Der mitgebrachte Galgen für den «Verräter» Pence trat nicht in Aktion, die Ermordung Pelosis fand nicht statt. Ende Staatstreich. Sieben Personen starben dabei.

Noch-Präsident Trump, der den Putsch am Morgen angeheizt hatte («wir marschieren jetzt zusammen aufs Capitol») und ihn dann im Weissen Haus am Fernsehen verfolgte, musste die geplante Ausrufung von Ausnahmezustand und Kriegsrecht absagen. Das Ende der Demokratie in den USA war vorläufig aufgeschoben.

«Die USA leiden unter einer schweren Krankheit: der
immensen Ungleichheit.»

LEBENSLANG KRIMINELL

Seither sinken Trumps Aktien. Die Deutsche Bank, die ihn mit Milliardenkrediten finanziert hatte, trennte sich von Trump (und von der für ihn zuständigen Direktorin), er steht dort nun mit mindestens 300 Millionen Dollar in der Kreide. Weitere Grossbanken, Konzerne und der US-Industriellenverband wandten sich von ihm ab. Twitter hat ihm, wie die meisten sozialen Medien, den Funk gekappt, nach 30’000 Lügen (von der Tageszeitung «Washington Post» gezählt). Die Stadt New York annullierte alle Verträge mit dem Trump-Konzern. Sogar die Vereinigung der Profigolfer will künftig Trumps 19 Golfplätze meiden.

Mit einem zweiten Impeachment-Verfahren wollen die Demokraten Trump künftig von allen öffentlichen Ämtern fernhalten. Der Mann, der Autokraten wie Putin und Kim Jong-un verehrt und sich schon als «Präsident auf Lebenszeit» wähnte, wird «den Rest seines Lebens als brennende Hölle in Gerichtssälen und Gefängnissen erleiden», prophezeit Rick Wilson, ein Ex-Republikaner und Politstratege. Derzeit arbeiten mehr als zwei Dutzend Staatsanwälte Trumps kriminelle Karriere auf. Die Vorwürfe reichen von Wirtschaftskriminalität über Amtsmissbrauch und sexuelle Nötigung bis zum Umsturzversuch. Trump ist sogar darin innovativ: Ein Präsident putscht gegen die Regierung. Herbert Marcuse, der marxistische US-Denker, hatte vor vielen Jahren geschrieben: «Die amerikanische Form des Faschismus ist der vorbeugende Staatsstreich. Ein Putsch, um der demokratischen Abwahl zuvorzukommen.» Doch als sich Tränengas, Pulverdampf und Pfefferspray gelegt hatten, und die Nationalgarde um das Capitol eine «grüne Zone» sicherte, sagte der gewählte Präsident ­Biden, nun sei die Zeit gekommen, «zur Normalität zurückzukehren». Waren die vier Jahre Trump nur ein Aussetzer? Trump ade, alles gut? Und was heisst in den USA Normalität?

BIDENS FROMMER WUNSCH

Joe Biden mag sich das wünschen, doch zwischen ihm und der demokratischen Normalität stehen ein zerrissenes Land und eine Republikanische Partei, die in ihrer Mehrheit längst mit vielen demokratischen Prinzipien gebrochen hat. Nicht nur, weil prominente Republikaner und die eher schlicht gestrickten Trump-Söhne die Putschisten unterstützten. Selbst als der Angriff auf das Parlament der führenden Weltmacht schon weltweit verurteilt oder schadenfroh begrinst wurde, waren noch 147 republikanische Senatorinnen und Senatoren und Abgeordnete bereit, an der Trump-Lüge von der «gestohlenen Wahl» festzuhalten. Trotz 4 Jahren rassistischer Hetze und 400’000 Coronatoten.

Der scheidende Präsident, der einen Führerkult um seine Person inszeniert und einfordert, ist gewiss irre, aber er ist in den Augen der Harvard-Professorin Lisa McGirr kein Irrläufer. Sie hat ein Standardwerk über die US-Rechte geschrieben. Am 13. Januar notierte sie: «Trump ist keine Verirrung, er ist die Blaupause der Republikanischen Partei. Er ist ihre Vergangenheit und ihre Zukunft.»

WEISSE MÄNNER ZUERST

Trumps Linie ist und bleibt die Leitschnur der Partei: weisse Vorherrschaft, neoliberaler Abbau der sozialen Sicherheit, Steuersenkungen für Reiche und Konzerne, Ausschluss afroamerikanischer und hispanischstämmiger US-Amerikanerinnen und -Amerikaner von den Wahllisten, Kritik der Demokratie, militarisierte Grenzen, Unterdrückung so­zialer Bewegungen und Nationalismus.

Nichts daran ist wirklich neu. All dies gründet tief in der Republikanischen Partei. Kein Zufall, dass an Trump-Demos und beim versuchten Staatsstreich die Flagge der Konföderierten auftauchte, das Banner der Sklavenhalter-Südstaaten. Man kann sich ihren Schock vorstellen, als am Tag vor dem Coup im Capitol ein schwarzer Prediger, Raphael Warnock, und ein Sohn jüdischer Immigranten, Jon Ossoff, die zwei Senatssitze des Südstaates Georgia für die Demokraten eroberten und damit die republikanische Mehrheit im Senat kippten.

«Trump ist keine Verirrung, er ist die Vergangenheit und Zukunft der Republikaner.»

TRUMP-HÖRIGE REPUBLIKANER

Dass die Partei, die Trump hervorgebracht hat, ihm bis heute zu weiten Teilen noch hörig ist, liegt daran, dass Trump beziehungsweise seine rechtsextremen Hintermänner wie der Medienunternehmer und Ideologe Stephen Bannon ein Grundproblem für die Republikaner gelöst haben. Es begann 1981 mit dem Einzug Ronald Reagans ins Weisse Haus. Reagan setzte die neoliberale Revolution in Gang. In den vier Jahrzehnten republikanischem Neoliberalismus (dem sich in der Zwischenzeit auch der demokratische Präsident Bill Clinton nicht entzog) wuchsen die sozialen Unterschiede scharf an. Die (fast durchweg weisse) Oberschicht bereicherte sich enorm, aber immer breitere Schichten versanken in Armut, manchmal sogar in pure Not. Seit der Krise 2000 traf dies auch immer stärker die Mittelschichten, die grosse Krise von 2008 warf sie ganz auf die Knie. Den Republikanern brachen die Wählerinnen und Wähler weg.

Nach der Wahl Barack Obamas im Jahr 2009 modernisierten Bannon & Co. ein altes Konzept der Republikaner: Der Mächtige gewinnt, wenn er die soziale Auseinandersetzung als Rassenkrieg führt.Trump sagte nun in der Essenz: Die Schwarzen, die Hispanics, die Immigranten und die Muslime nehmen euch Weissen das Land und den Wohlstand (und die Frauen) weg. Und die amerikanischen Werte. Obama ist kein richtiger Amerikaner. Mit Wahlbetrug stehlen sie euch sogar die Regierung. Ihr seid die Opfer einer globalisierten (jüdisch-is­lamisch-kommunistischen-pädophilen) Elite. Aber ich, Trump, bin euer Messias. im Krieg für den Westen und die USA. Ich hole unser Land zurück.

Derlei kennt man schon aus anderen Zeiten, und die Rechtsnationalen in Italien, Frankreich, Ungarn, Polen, Brasilien, Indien und der Schweiz (siehe Artikel links) bedienen sich des gleichen Opfer-Musters. Übrigens oft vom selben Steve Bannon beraten. Frappant daran ist nur, dass es fast immer die Täter sind, die Herrschenden, die diese Opfer-Rhetorik führen. Trump tat dies besonders wirksam, weil er ihr einen weiteren Dreh verpasste, indem er seine Wählerinnen und Wähler durch permanentes Lügen und seine Medienmacht in eine Parallelwelt führte. Jetzt glauben fast die Hälfte der Republikaner sogar, nicht Trumps Leute hätten das Capitol überfallen, sondern linke Antifaschisten und die Anhänger von Black Lives Matter – als Trumpisten getarnt.

MYTHOS ARMER WEISSER MANN

Auf das Märchen vom armen kleinen weissen Mann, der Trump in seiner Verzweiflung gewählt habe, sind viele reingefallen. Nach dem Wahlsieg Trumps 2016 spielten Kommentatorinnen und Kommentatoren das Thema bis zum Verdruss. Die Amerikanistin Sylvie Laurent, die an den Universitäten Stanford, Berkeley und Paris lehrt, räumt in ihrem neuesten Buch («Pauvre petit blanc») mit dem Mythos vom Weissen, der verdrängt wird, gründlich auf: «Dieses Land leidet unter einer schweren Krankheit: der immensen Ungleichheit. Die USA brauchen tiefgreifende Reformen und Umverteilung.»

Sicher haben im verschärften neoliberalen Kapitalismus viele weisse Männer ihren Job verloren – aber noch mehr Afroamerikaner und Latinos. Die Arbeitslosigkeit der Latino-Haushalte lag Mitte 2020 nach offiziellen Regierungszahlen bei 19 Prozent, jene der afroamerikanischen bei 16 Prozent und die der weissen bei 14 Prozent. Doppelt so viele afroamerikanische Familien wie weisse leben unter der Armutsgrenze. Sicher sinkt der Wohlstand der Mittelschicht, aber eben nicht nur der Weissen: Das Medianvermögen (die eine Hälfte liegt darunter die andere darüber) der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner liegt heute bei 17’600 Dollar pro Haushalt, bei den Weissen hingegen neunmal höher (171’000 Dollar). Latinos bringen es auch nur auf 20’700 Dollar.

Wenn irgendjemand diskriminiert wird, dann nicht der arme weisse Mann. Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner sind sehr viel häufiger im Gefängnis, erleiden ungefilterte Polizeigewalt und sind von Corona deutlich stärker betroffen. Wie schon Martin Luther King sagte: «Kapitalismus schafft Rassismus.» In einer wirklich demokratischen Gesellschaft wären Rassenfragen Unsinn, weil Rassen nicht existieren. Wird die soziale Unterdrückung aber entlang ethnischen Grenzen organisiert und legitimiert, wird das Sprengstoff.

Interessant, wer da nach dem Capitol-Sturm der Polizei in die Fänge geriet oder sich auf dem Netz für seine eigenen «Heldentaten» feierte: Alle Formen von Extremisten, die Trump für seine Zwecke gefördert hatte. Rassisten, Faschisten wie die «Proud Boys», Neonazis, christliche Fundamentalistinnen, Verschwörungsgläubige (etwa von Q-Anon) und Coronaleugner. Viele Militärs und Polizisten. Überdurchschnittlich viel Mittelschichtsberufe. Fast ausschliesslich Weisse, sehr viele Frauen. Die meisten fühlten sich «vom Präsidenten geschickt», wie sie in Verhören kundtaten.

Bernie Sanders, der grosse alte Mann der US-Linken in der Demokratischen Partei, sieht darum, wie Amerikanistin Sylvie Laurent, die Rückverteilung von Chancen und sozialer Sicherheit als zentrale Herausforderung für den neuen Präsidenten: «Die Kernfrage ist, warum immer noch so viele einen Mann wie Trump wählen. Wenn die Demokraten es nicht schaffen, sich für die arbeitenden Klassen, egal ob schwarz, weiss, latino oder amerindianisch, gegen die mächtigen Interessen der Wirtschaft durchzusetzen, kommt 2024 ein Autokrat an die Macht, der vielleicht noch schlimmer ist als Trump.»

Joe Biden hat früher, bevor ihn Barack Obama zu seinem Vize machte, zentristisch bis rechts politisiert. Und er steckt tief im Polit-Establishment drin. Seine vorläufige Kabinettsliste ist interessant. Elisabeth Warren, die ihm bei den Primärwahlen einheizte, steht nicht dar­auf. Hingegen hat er mit Kamala Harris eine starke Kontrahentin als Vizepräsidentin. Die Wirtschaft dürfte eher beruhigt auf die Ökonomie-Routiniers in Bidens Regierung schauen. Hingegen will er für Arbeit und Soziales Leute ernennen, die als progressiv gelten und die den Gewerkschaften nahestehen.

«Dies alles ist noch lange nicht zu Ende.»

DIE BULLDOGGE

Der «neue Biden», sagt der US-Dokumentarfilmer Michael Moore, sei eine Bulldogge. 78jährig, wolle der Präsident eine markante Spur hinterlassen. Sofort nach seiner Vereidigung wird er eine Salve von Dekreten abschiessen, die besonders üble Trump-Beschlüsse rückgängig machen. Vor allem aber will er schnell ein 1,9-Billionen-Dollar-Paket durchsetzen, das für Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner rasche und konkrete Verbesserungen bringt

  • bei der Impfung gegen Covid-19,
  • beim Arbeitslosengeld,
  • beim Mindestlohn und beim Zugang zu Obamacare: nach Trump sind über 40 Prozent der Bevölkerung ohne Krankenversicherung.

Doch erst einmal gilt es, Trump zu entsorgen und die bewaffneten Ultrarechten, deren Mitgliedschaft das FBI auf mehrere Millionen schätzt, ruhigzustellen. Moore warnt: «Dies alles ist noch lange nicht zu Ende.»

Dieser Text wurde drei Tage vor der Amtsübergabe, am 17. Januar, geschrieben.


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1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    „Moore warnt: «Dies alles ist noch lange nicht zu Ende.»“ Dann hat ja auch Herr Fahri noch eine Weile was zu essen.

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