Pedro Lenz über Corona, verschlungene Berufswege und das Leben als Mundart-Autor:

«Schreiben ist viel besser, als ich es mir vorgestellt habe»

Clemens Studer

Schriftsteller ­Pedro Lenz ist gelernter Maurer, hat als kirchlicher Jugendarbeiter gearbeitet und ist Beizen-Mitbesitzer. Ein Interview über sein neues Buch und das Leben in Pandemie-Zeiten.

PEDRO LENZ: «Was mir meine Kollegen auf dem Bau erzählt haben, habe ich notiert. Nicht als Spion, sondern weil es mich bewegt hat und ich Gedankenstützen haben wollte für später.» (Foto: André Albrecht)

work: Pedro Lenz, Sie sind als Kulturschaffender und Beizen-Mitbesitzer gleich doppelt coronageschädigt.
Pedro Lenz: Das kann man so sehen, ich sehe andere, denen es übler geht. Immerhin habe ich meine im Frühlings-Lockdown abgesagten Veranstaltungen zu 80 Prozent entschädigt bekommen.

Aber Ihre Beiz, das «Flügelrad» in Olten, die Sie mitbesitzen, wie geht es der?
Wir haben das Glück, dass wir nie aus der Vermietung des Restaurants Geld rausziehen mussten. Alles, was wir «verdient» haben, haben wir stets in den Unterhalt gesteckt. Das ist derzeit allerdings schwierig.

Haben Sie dem Pächter den Mietzins erlassen?
Nein, das mussten wir nicht. Von Anfang an haben wir eine Umsatzmiete vereinbart. Verdient der Wirt nichts, nehmen auch wir nichts ein. Während der letzten Monate war das Restaurant erst ab 19 Uhr geöffnet. Jetzt ist um 19 Uhr ja coronabedingter Feierabend. Das ist für den Wirt und die Mitarbeitenden noch schwieriger als für uns.

A propos schwierig: Kürzlich ist Ihr neues Buch erschienen. Aber ­Veranstaltungen und Lesungen sind quasi tot.
In der Schweiz ist es banal. Als Autor hat man 10 Prozent des Verkaufspreises. Wenn mein Buch 30 Franken kostet und es eine grosse Buchhandelskette für 25 Franken verkauft, ich gleichzeitig 10 000 Exem­plare verkaufe, verdiene ich 25 000 Franken. Davon kann ich nicht ­leben. Darum sind die Auftritte für mich zentral.

Also ist Ihr neustes Buch zur Unzeit erschienen?
Ja, eigentlich ist das ein fertiger Scheiss­dreck! Das Buch ist Ende September erschienen. Normalerweise wäre ich jetzt Oktober, November und Dezember voll auf Tour. Entweder mit dem Buch oder mit anderen Programmen. Und da hätte ich dann meinen kleinen Kiosk dabei und würde Bücher signieren. Das hätte mir extrem geholfen. Jetzt ist alles praktisch auf null gefahren. Gleichzeitig habe ich ein riesiges Glück, dass das Buch in den Läden gut läuft. Der Super-GAU wäre, wenn jetzt auch noch die Buchhandlungen schliessen müssten.

Der Super-GAU wäre, wenn jetzt die Buchhandlungen schliessen müssten.

Verraten Sie uns Ihr Geschäfts­modell?
Ich lebe je ungefähr zu einem Drittel von Buchverkäufen, Auftritten und journalistischen Arbeiten. Ein Drittel davon ist jetzt quasi weg. Es gab in den vergangenen Wochen zwar noch eine Handvoll Veranstaltungen. Aber das ist natürlich nicht zu vergleichen mit Vor-Corona-Zeiten. Meistens sind es Veranstalterinnen wie Gemeindebibliotheken, die noch funktionieren, aus öffentlichen Geldern finanziert. Wer seine Veranstaltungen mit Eintrittsgeldern berappt, hat bei den Publikumsbeschränkungen kaum eine Chance.

Sie sind Vater von zwei kleinen Buben. Was hat das in Ihrem Leben organisatorisch verändert?
Meine Frau ist Journalistin und arbeitet 60 Prozent. Ich bin – beziehungsweise war vor der Pandemie – etliche Tage pro Woche an Veranstaltungen unterwegs. Das ist eine Herausforderung. Denn die Schweiz ist in Sachen ausserfamiliärer Kinderbetreuung ein Entwicklungsland. Im Moment ist es anders, da ich kaum mehr Lesungen habe, habe ich dafür die Buben mehr. Das ist einerseits schön. Aber auch schön anstrengend.

Anstrengender als das Schreiben?
Anders. Aber das ist kein Problem. Wenn ich ein Buch schreiben kann, schreibe ich ein Buch. Es dauert dann halt einfach ein bisschen länger. Für meine Frau ist die Herausforderung grösser.

Herausgefordert sind auch die Hauptfiguren in Ihrem neusten Buch. Sie arbeiten als Büezer auf dem Bau. «Primitivo» ist Arbeiterliteratur.
Ja, aber «Arbeiterliteratur» ist ein belasteter Begriff. In der ehemaligen DDR war es beinahe ein Fetisch. Und die damaligen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen hatten den Nachteil, dass sie die ­Arbeitenden immer als die edlen Menschen hinstellen sollten. Das war dann irgendwann halt auch nicht mehr interessant. Da habe ich es einfacher.

Wie meinen Sie das?
Ich kann dem Büezer auch mal einen Charakterfehler zugestehen und muss nicht am Schluss noch den Marxismus oder die Welt erklären. Aber ich habe immer das Gefühl gehabt, dass Literatur ein Abbild sein muss von etwas Nachvollziehbarem. Wenn ich den US-Autor John Steinbeck lese, bilde ich mir nicht ein, ich würde die USA kennen. Aber ich habe das Gefühl, etwas begriffen zu haben über die Stimmung in diesem Land zu der Zeit, von der die Texte handeln.

Erzählungen als Abbild des richtigen Lebens?
Na ja, vielleicht auch des falschen Lebens. Nehmen wir ein Beispiel aus der TV-Geschichte. Als Bub habe ich immer gerne die Krimi-Serie «Derrick» geschaut. Das prägte ein Bild in mir: Alle Deutschen leben in Einfamilienhäusern oder Villen, haben einen fetten BMW in der Garage und einen Flügel im Wohnzimmer. Darauf spielen dann die Frauen den ganzen Tag. Bis sie ermordet werden. Mein Bild von Deutschland wurde in diesen Jahren geprägt von einem falschen Bild: von irgendwelchen Morden in einer gelangweilten Oberschicht. Und als Kind dachte ich: Das ist Deutschland.

Also waren Sie ein Schauer, bevor Sie zum Schreiber wurden?
Zuvor war ich Leser. Wobei ich das erst richtig entdeckt habe, bevor es mich dann aus dem Gymnasium rausgespült hat. Aber ich hatte immer noch ehemalige Schulfreunde, die mich auch während meiner Maurerlehre mit Lesestoff versorgten.

Und zum Schreiber wurden Sie wann?
Eigentlich bin ich mit Briefen zum ­Schreiben gekommen. Ich ging nach der Lehre mit 19 Jahren nach Zürich. Damals gab es ja noch keine SMS oder E-Mails. Und telefoniert hat man auch nicht so viel. Wenn, dann war das eher funken, um etwas abzumachen. Lange Telefongespräche waren nicht so mein Ding. Dazu kam, dass ich damals in einer Arbeiterunterkunft wohnte. Da gab es ein Telefon und man musste sich quasi mit einem Hosensack voller Zwänzgi anstellen. Also hat man geschrieben. Briefe schreiben war eine grosse Sache. Schon fast eine Art Hobby.

Wem schrieben Sie denn?
Übers Wochenende ging ich jeweils nach Langenthal und traf meine Kollegen. Und am Montag hat man begonnen, Briefe zu schreiben. Nicht nur an eine Angebetete, die einem ins Auge gestochen ist. Sondern auch unter den Kumpels. Darüber, was man erlebt hat, mit Gedanken zu den laufenden Ereignissen. Und ich habe viel Tagebuch geschrieben. Nicht zum Veröffentlichen, sondern um festzuhalten, was passiert. Vor allem auch Begegnungen. Zum Beispiel jene mit Primitivo. Was mir meine Kollegen auf dem Bau erzählt haben, habe ich notiert. Nicht als Spion, sondern weil es mich bewegt hat und ich Gedankenstützen haben wollte für später. Damit ich es nicht vergesse.

Als Kind dachte ich, Derrick, das ist Deutschland: Villen, fette BMW und Flügel im Wohnzimmer.

Sie haben ja eine aussergewöhnliche Berufsgeschichte: Maurer, kirchlicher Jugendarbeiter, Schriftsteller. Wie ist das so gekommen, wie es ist?
Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte wenig schulisches Selbstbewusstsein. Und vielleicht auch ein bisschen zu wenig schulischen Ehrgeiz. Darum hat es nach einem halben Jahr Gymnasium nicht mehr gereicht fürs Weitermachen. Und ich hab mich entschlossen, eine Maurerlehre zu machen. Mein Vater war zwar nicht begeistert, hat mich aber unterstützt unter der Voraussetzung, dass die Maurerlehre nicht «einfach ein Furz» sei.

Sieben Jahre einschliesslich Lehre waren Sie auf dem Bau. Und dann wurden Sie katholischer Jugendarbeiter im protestantischen Oberaargau.
Ja, das tönt nach einer verrückten Wendung. War es aber eigentlich gar nicht. Ich war immer in Jungwacht/Blauring-­Lagern. Das war so eine Insel der Freiheit. Weil wenn ich mit meinen Eltern in den Ferien war, hiess es immer: «Pass auf, macht dich nicht dreckig!» Mein Bruder und ich waren – wie man heute sagen würde – ziemlich überbehütet. In den Jungwachtlagern hatten wir Freiheit. Konnten uns schmutzig machen und abends auch mal ins Mädchenzelt rüberschleichen. Später wurde ich Leiter.

Aber von da zum Jugendarbeiter ist doch noch ein weiter Weg.
Nach sieben Jahren auf dem Bau habe ich gemerkt, dass das nicht meine Enddestination sein kann. Die Weiterbildungen, die mir auf dem Bau möglich gewesen wären – Polier, später Bauführer –, haben mich nicht begeistert. Ich habe gerne gemauert, aber eine Baustelle zu leiten, konnte ich mir nicht vorstellen. Aber alle anderen Weiterbildungen, die ich mir anschaute, hatten Schulabschluss-Voraussetzungen, die ich nicht erfüllte.

Und dann kam der Herr Pfarrer?
Genau! Der damalige Pfarrer von Langenthal kam auf mich zu, weil er mich als Jungwachtleiter kannte. Er wollte eine kirchliche Jugendarbeit aufbauen und bot mir den Job an. Ich war zuerst skeptisch, weil ich ja keine entsprechende Ausbildung hatte. Aber der Pfarrer hat gesagt: «Wir haben sowieso nur ein 50-Prozent-Pensum, den Rest der Zeit brauchst du für Weiterbildungen.» Dann habe ich einen Kurs gemacht, der hiess TKL, Theoriekurs katholischer Laien. Und dazu die Katecheten-Ausbildung. Da war ich ziemlich singulär unter den Teilnehmenden.

Warum?
Es waren mehrheitlich Frauen, deren Kinder schon ein bisschen grösser waren und die sich für Religionsunterricht in den Pfarreien interessierten, so 3. bis 5. Klasse. Und ich sollte das dann machen für die älteren Kinder im Unterricht. Um die bei der Stange zu halten für die Kirche und in die Jugendarbeit rüberzuführen. Das hat mir gefallen. Aber habe dann schon gemerkt: grad ein Seelsorger bin ich nicht.

Da waren Sie 27?
Ja. Und die meisten meiner Kollegen hatten schon einen fixen Job und viele auch Familie. Und ich wusste immer noch nicht, wohin mit meinem Leben. Da habe ich nach einer Reihe Praktika die Matur nachgeholt.

Und Literatur studiert.
Nur kurz. Ich habe studiert, auf dem ­Berner Güterbahnhof Nachtschicht gemacht und für Berner Tageszeitungen geschrieben. Es hat mich fast zerrissen. Aber ich habe es nicht zuerst gemerkt, sondern meine damalige Frau, eine ­Psychologin. Sie hat bemerkt, dass ich immer unglücklicher wurde. Und mir gesagt: «Du musst dich entscheiden. Entweder das Studium, Stutz verdienen oder Schreiben.»

Und Sie wählten das Schreiben?
Dank ihrem Rat. Sie hat mir empfohlen, es einmal ein Jahr auszuprobieren, um herauszufinden, ob es wirklich so sei, wie ich es mir vorstelle.

Und, ist es so?
Nein, besser!

Pedro Lenz: «Dr Goalie bin ig»

Pedro Lenz kam 1965 in Langenthal auf die Welt. Nach einer Maurerlehre machte er auf dem zweiten Bildungsweg die Matura. Und studierte einige Semester an der Uni Bern. Seit 2001 arbeitet er voll als Schriftsteller. Zu seinen berühmtesten Büchern gehört der Mundart­roman «Dr Goalie bin ig» von 2010. Lenz lebt in Olten.


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