Sechs Monate SGB-Chef Pierre-Yves Maillard: Eine Zwischenbilanz

«Wir können nach dem Frauenstreik doch nicht mit Frauenrentenalter 65 kommen!»

Marie-Josée Kuhn

Die Überbrückungsrente für Ausgesteuerte ­angestossen, den BVG-Kompromiss ­aufgegleist und ein Treffen mit dem Obergegner des ­Schweizer Lohnschutzes organisiert: Das und mehr hat SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard schon vorzuweisen.

PIERRE-YVES MAILLARD, OBERSTER SCHWEIZER GEWERKSCHAFTER: «Es stimmt eben nicht, was gewisse Medien nach den Wahlen behauptet haben, dass Gewerkschafter unpopulär seien!» (Foto: Severin Nowacki)

work: Pierre-Yves Maillard, wie gefällt Ihnen Ihr Job als SGB-Chef?
Pierre-Yves Maillard: Am Anfang musste ich mich, ich gestehe es, ein wenig daran gewöhnen, dass ich jetzt nicht mehr im Zehnminutentakt Entscheide fällen muss. So wie vorher als Regierungsrat. Entscheidungen beim SGB treffen wir gemeinsam, nach intensiven Diskussionen. Das bedeutet, ich habe jetzt weniger Stress als vorher und mehr Zeit für Gespräche. Ich reise viel an Delegiertenversammlungen der lokalen Sektionen, und wir haben auch die Kontakte mit den europäischen Gewerkschaften intensiviert. Jetzt komme ich grad aus Paris, wo wir bei CGT, CFDT und FO waren. Es ist eine spannende Arbeit.

Sie werden auch Zeit brauchen für Ihr Nationalratsmandat. Im Kanton Waadt haben Sie das beste Resultat gemacht, vor allen ­Bürgerlichen. Warum sind Sie so beliebt?
Es stimmt eben nicht, was gewisse Medien nach den Wahlen behauptet haben, dass Gewerkschafter unpopulär seien! Ich habe sicher auch deshalb so gut abgeschnitten, weil ich fünfzehn Jahre lang Waadtländer Gesundheits- und Sozialminister war und unter mir die Krankenkassenprämien für 100 000 Leute sanken, weil wir die Prämienverbilligung erhöhten. Der Kanton Waadt ist inzwischen ein ­fortschrittlicher Kanton, auch ein frauenfreundlicher.

Wie erklären Sie sich das?
Rot-Grün hat den Kanton in den letzten zwanzig Jahren umgekrempelt. Einst war die Waadt eisern in FDP-Hand, so, wie das Wallis in den Händen der CVP. Heute ist das komplett anders, die meisten Städte in der Waadt sind links regiert, und in der Kantonsregierung sind 5 von 7 Sitzen von Frauen besetzt. Und jetzt, bei den Nationalratswahlen, hat Rot-Grün sogar mehr Stimmen gemacht als FDP und SVP zusammen, das gab’s vorher noch nie! Einziger Wermutstropfen für mich und meine Partei: dass Ada Marra jetzt nicht in den Ständerat einziehen kann.

Bei Ihrer Wahl zum SGB-Präsidenten haben Sie versprochen, sich für die Gleichstellung der Frauen einzusetzen. Was haben Sie bisher erreicht?
Das Wichtigste ist wohl der BVG-Kompromiss der Sozialpartner, der jetzt beim Bundesrat liegt. Er sieht unter anderem vor, dass der sogenannte ­Koordinationsabzug halbiert wird. Dieser bestimmt, ab wann ein Einkommen BVG-pflichtig ist – und liegt heute bei 24 885 Franken im Jahr. Viele Teilzeitarbeitende, vor allem auch Frauen, verdienen aber weniger. Sie zahlen also nicht oder nur wenig in die zweite Säule ein und haben später keine oder nur sehr kleine BVG-Renten.

Der SGB hat’s gerade berechnet: Wir reden von BVG-Minirenten von 500 bis 800 Franken monatlich (siehe die schockierenden ­Zahlen auf Seite 5). Einschliesslich AHV-Mindestrente ­kommen die Frauen dann nicht mal auf 2000 Franken Rente …
… Ja, es ist unglaublich, ein Skandal, deshalb ist diese BVG-Reform auch so wichtig. Dank ihr würden solch tiefe Frauenrenten, zum Beispiel in der Gastronomie oder im Verkauf, um 50 Prozent erhöht oder sogar um mehr für die ganz niedrigen Renten.

Klar, die Frauen werden auch mehr in die zweite Säule einzahlen müssen, aber aus jedem Franken, den sie einzahlen, werden deren zwei, weil die Arbeitgeber ja auch einzahlen. Der BVG-Kompromiss würde den Frauen also zusätzliches Arbeitgebergeld bringen.

Sie haben diesen Kompromiss zusammen mit Arbeitgeberchef Valentin Vogt ausge­handelt. Der erhält nun von SVP bis NZZ Prügel. Der Vorwurf: Er habe sich mit den Gewerkschaften ins Bett gelegt. Wie haben Sie Vogt dazu gebracht?
Es gibt starke Tendenzen bei den Arbeitgebern und den rechten Parteien, überhaupt nicht mehr mit den Sozialpartnern zu verhandeln. Das ist eine konzertierte Attacke gegen die Sozialpartnerschaft. SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher hat diese an einer Pressekonferenz 2017 vorgespurt: gegen Mindestlöhne, gegen Gesamtarbeitsverträge, gegen den Lohnschutz bei den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit usw. Es ist krass, wie «unschweizerisch» die SVP und andere neoliberale Kreise da unterwegs sind. Es waren die Bürgerlichen, die immer gesagt haben, in der Schweiz regeln wir solche sozialen Fortschritte mit der Sozialpartnerschaft – und nicht via Gesetz. Dieses alte Schweizer Prinzip treten Martullo & Co. nun mit Füssen.

Und Valentin Vogt ist da anders?
Als ich ihn zum ersten Mal traf, sagte Valentin Vogt, er schätze die Sozialpartnerschaft und er wolle verhandeln. Und das will ich auch, ich will einen Kompromiss, ein Resultat, das besser ist, als was wir heute haben. Und der BVG-Kompromiss ist besser.

Aber mit ihm stärken Sie die falsche Säule, die wacklige und unsolidarische. Stört Sie das nicht?
Das Wichtigste für uns ist, dass mit dem Kompromiss die heutigen Rentensenkungen gestoppt werden. Zudem wird die zweite Säule solidarischer: Die Zusatzeinnahmen werden mit einem Abzug von 0,5 Prozent auf allen Löhnen finanziert. Gutverdienende finanzieren so fixe Rentenzusätze, die den Schlechterverdienenden zugute kommen.

Der Deal ändert auch nichts an unserem Einsatz für die AHV. Nur haben wir dort keinen Kompromiss finden können. Nur zwei Wochen nach dem historischen Frauenstreik gab der Bundesrat ja bekannt, dass er die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 will. Da werden wir also kämpfen müssen.

Kategorisch?
Für mich ja, aber natürlich wird die Delegiertenversammlung entscheiden.

«Mit den riesigen Nationalbank­gewinnen können wir eine 13. AHV-Rente finanzieren.»

Aber der SGB war ja für die vor zwei Jahren gescheiterte AHV-Reform 2020. Die sah auch das Frauenrentenalter 65 vor. Warum dieser Gesinnungswandel?
Ich war damals noch nicht in die Diskussionen involviert, aber spürte schon damals, wie stark die Frauen diese Rentenaltererhöhung ablehnen. Am 14. Juni dann, am Frauenstreik, wurde das noch klarer. Beim Lohn, bei der Gratis-Hausarbeit usw. sind Frauen einfach noch massiv diskriminiert. Also können wir doch jetzt nicht mit dem Renten­alter 65 kommen! Das ist ein grosser Irrtum des Bundesrates.

Das werden wir bekämpfen. Und wir werden auch eine Initiative für eine 13. AHV-Rente lancieren, wenn das die SGB-Delegierten am 15. November so beschliessen. Sie wird allen etwas bringen, besonders auch den Frauen, weil sie häufig nur die AHV-Mindestrente haben.

Wie wollen Sie diesen Ausbau der AHV finanzieren?
Mit den Gewinnen der Schweizer Nationalbank zum Beispiel. Denn die Zentralbanken schreiben so hohe Gewinne wie noch nie, während die Bevölkerung verarmt. Allein zwischen Januar und September dieses Jahres hat die Nationalbank mit Wetten auf Devisen ­einen Gewinn von 52 Milliarden Franken gemacht. Nach der Krise von 2008 lag ihr Eigenkapital, also ihre Sicherheit, noch bei 60 Milliarden Franken. Heute liegt es bei 170 Milliarden Franken. Und dieses Geld investiert sie in Aktien im Ausland. Das ist doch absurd!
Wir sollten also nur tun, was unsere Verfassung verlangt: dass der Reingewinn der Nationalbank via Bund und Kantone zurückverteilt werden muss ans Volk.

In den letzten Jahren gingen etwa 3 Milliarden Franken von etwa 20 Milliarden diesen Weg. Der Betrag muss erhöht und der AHV zugeführt werden.

Die Wirtschaftspresse nennt Sie «Mister Dealmaker». Ehrt Sie das?
Sie meinen wegen der Überbrückungsrente für Ausgesteuerte?

Ja, im Kanton Waadt gibt es diese ja schon lange, und Sie sind ein bisschen ihr Vater. Und jetzt schlägt Bundesrätin Keller-Sutter eine solche Überbrückungsrente für die ganze Schweiz vor. Sie haben offenbar einen guten Draht zur Justizministerin?
Wir sind in gutem Kontakt, ja, und diese Überbrückungsrente ist ein sehr gutes Projekt, das wir ­zusammen entwickelt haben. Es macht einen riesigen Unterschied für die Leute, ob sie nach 45 Jahren im Erwerbsleben eine Rente bekommen oder auf die Sozialhilfe müssen. Und obwohl diese Rente leicht höher ist als die jetzige Sozialhilfe, kommt sie den Staat nicht teurer. Das zeigt unsere Erfahrung aus der Waadt. Wer Sozialhilfe hat, muss seine Berechtigung nämlich immer wieder überprüfen lassen, das bedeutet administrativen Aufwand. Und der kostet. Bei der Überbrückungsrente fällt dieser weg. Und die Menschen sind erst noch glücklicher!

Das zählt, gerade auch in Hinblick auf die Abstimmung über die SVP-Kündigungsinitiative, die ja die Personenfreizügigkeit abschaffen will. Das ist brandgefährlich, denn die Freizügigkeit hat der Schweizer Wirtschaft viel gebracht. Aber sie hat viele Leute auch verunsichert. Ihnen müssen wir mehr soziale Sicherheit geben. Zeigen, dass die Personenfreizügigkeit nicht nur den Firmen nützt, sondern uns allen. Bundesrätin Keller-Sutter hat das begriffen.

«In Strassburg hörten wir nicht, dass Nachverhandlungen beim Rahmenvertrag unmöglich seien.»

Der Lohnschutz steht unter enormem Druck. Neoliberale Kräfte in der EU und in der Schweiz wollen ihn im Rahmenvertrag schleifen. Sie trafen kürzlich den deutschen Anti-Lohnschutz-Lobbyisten im EU-Parlament, Andreas Schwab. Was sagten Sie ihm?
Wir haben ihm ruhig, aber dezidiert erklärt, dass wir Gewerkschaften dem vorliegenden Rahmenvertrag nie und nimmer zustimmen werden. Dass dieser Vertrag auch vor dem Schweizer Volk keine Chance hat. Und wir haben ihm auch klargemacht, dass das kein nationalistischer Kampf ist, sondern ein Kampf der fortschrittlichen Kräfte ­gegen die neoliberalen Marktanbeter, hüben wie drüben.

Da haben wir die Unterstützung aller europäischen Gewerkschaften: Am Schweizer Lohnschutz wird nicht gerüttelt, basta! Mit der EU muss drum neu verhandelt werden – und zwar erst nach der Abstimmung über die SVP-Kündigungsinitiative. Das ist zentral, denn wir dürfen die beiden Debatten nicht vermischen.

Im nächsten Mai müssen wir zuerst den bewährten Schweizer Weg mit Europa verteidigen: Öffnung, bilaterale Verträge, Personenfreizügigkeit mit guten flankierenden Massnahmen. Erst danach stellt sich die Frage eines neuen Modus ­vivendi mit der EU.

Und was hat Schwab geantwortet?
Ich kann nicht für ihn sprechen, aber jedenfalls hörten wir nicht, was uns die Schweizer Medien und die Economiesuisse jetzt wieder täglich einhämmern: dass Nachverhandlungen mit der EU unmöglich seien.

Sie wollen sagen, die Economiesuisse schiebt den Druck der EU vor, weil ihr der Schweizer Lohnschutz selber ein Dorn im Auge ist?
Nicht nur der Economiesuisse, auch der SVP. Dies, obwohl letztere mit ihrer Initiative eine andere Strategie fährt: Abbruch mit der EU, um dann die sozialen Rechte in der Schweiz in einer grossen Offensive à la Margaret Thatcher abschaffen zu können.

Sie glauben wirklich, dass die EU nachverhandeln wird?
Entweder wir können nachverhandeln, oder dieser vorliegende Rahmenvertrag scheitert vor dem Volk.

Pierre-Yves Maillard

Pierre-Yves Maillard ist ein echter 68er, damals im März kam er in Lausanne zur Welt. Als Sohn eines Garagisten und einer Hausfrau und Arbeiterin. Mit 22 kam der Sozi ins Lausanner Gemeindeparlament, mit 29 ins Waadtländer Kantonsparlament, mit 31 in den Nationalrat, mit 36 in den Waadtländer Regierungsrat. Von 2000 bis 2004 war Maillard Regioleiter bei der Gewerkschaft Smuv. 2011 kandidierte er für den Bundesrat – gegen Marina Carobbio und Alain Berset. Und jetzt, mit 50, wurde PYM oberster Gewerkschafter. Er ist Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt in Renens VD.


Maillard zur Klimabewegung: «Wir Gewerk­schaften sollten uns öffnen»

UNTER DEM GRÜNEN SCHIRM: SGB-Chef Maillard unterstützt die Klimabewegung.

work: Die Klimabewegung ruft für den 15. Mai 2020 zu einem Massenstreik auf und möchte dafür die Unterstützung der Gewerkschaften. Sind Sie dabei?
Pierre-Yves Maillard: Wir werden an unserer Delegiertenversammlung erste Entscheide treffen. Ich finde, wir sollten uns diesen Jungen öffnen. Sie sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Zukunft. Ich werde deshalb für lokale Treffen zwischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und Klimabewegten überall in der Schweiz plädieren. Und zwar ab sofort. Im direkten Kontakt können wir die konkreten Mobilisierungs­formen definieren.

Warum ist der Klimanotstand ein Gewerkschaftsthema?
Weil die Bauarbeiter im Sommer schon seit einigen Jahren wegen der Hitze leiden, zum Beispiel. Wer arbeitet, ist von der Umwelt- und Luftverschmutzung stark betroffen – und auch von den Massnahmen zum Klimaschutz. Ein ökologischer Umbau der Wirtschaft, der nicht auch sozial ist, hat keine Chance. Siehe Frankreich und die Gelbwesten. Lenkungsabgaben müssen deshalb auch vollumfänglich an die Bevölkerung zurückerstattet werden. Pro Kopf!

Ab wann soll die Schweiz CO2-neutral sein?
So bald wie möglich. Wir brauchen eine breit abgestützte Strategie.

Was halten Sie vom work-Klima-Umbauplan in 19 Tafeln, der detailliert aufzeigt, wie die Schweiz bis 2030 CO2-neutral werden kann?
Dieser beeindruckende Plan zeigt, dass es Hoffnung für die Zukunft gibt. Ein öko­sozialer Umbau der Schweiz ist dank technischem Fortschritt und konkreten politischen Massnahmen möglich.

Der ökosoziale Umbau (Wohnungsbau fördern, Förderung der Produktion synthetischer Brennstoffe usw.) kostet Geld, wie soll er finanziert werden?
So, wie einst der Bau unserer Staudämme finanziert wurde, mit Geld der Eidgenossenschaft und der institutionellen Anleger. Klar ist: Wenn wir nichts tun, kommt es noch viel teurer.


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