Unia-Chefin Vania Alleva über Dumpingskandale und das Verhältnis zur EU

«Es gibt zurzeit einen Doppel­angriff von rechts»

Clemens Studer

Grosser Erfolg im massiven Lohndumpingfall Goger, hartnäckiges Ringen um die flankierenden Massnahmen und entschiedener Kampf gegen die SVP-Kündigungsinitiative: Unia-Präsidentin Vania Alleva erklärt, warum und wie alles zusammenhängt.

VANIA ALLEVA: «Vor jeder weiteren Diskussion über das Rahmenabkommen muss zuerst die SVP-Kündigungsinitiative vom Tisch.» (Foto: Matthias Luggen)

work: Vania Alleva, nach langen Jahren, in der die Unia auf die Missstände bei der Bauunternehmung Goger aufmerksam gemacht hat, ermittelt jetzt endlich die Justiz. Sind Sie zufrieden?
Vania Alleva: Der Fall Goger ist eine unglaubliche – und dennoch typische – Geschichte. Wäre die Unia nicht hartnäckig drangeblieben, wäre Goger ungeschoren davongekommen. Das zeigt, wie wichtig unsere Hartnäckigkeit und unsere Unterstützung für die betroffenen Arbeitnehmenden auf dem Terrain sind. Er zeigt auch, wie wichtig das Schweizer Instrumentarium zum Lohnschutz, die flankierenden Massnahmen (FlaM), sind. Sie müssen dringend gestärkt werden. Der Fall Goger, aber auch der jüngste Lohndumpingfall Monte Ceneri und die Vorgänge bei Zaffaroni in Genf machen deutlich: Einige Arbeitgeber legen erhebliche kriminelle Energie an den Tag, um den Lohnschutz zu umgehen. Es braucht darum mehr Kontrollen, wirksamere Sanktionen und einen besseren Schutz der Arbeitnehmenden, die sich gegen diesen Missbrauch wehren.

Doch gerade der Lohnschutz ist mit dem EU-Rahmenabkommen in der vorliegenden Form gefährdet.
Darum lehnen wir das Rahmenabkommen in der vorliegenden Form auch so klar ab. Es stellt bestehende flankierende Massnahmen wie Anmeldefristen, Kautionen und sozialpartnerschaftliche Kontrollen der Verträge in Frage. Dabei müssen die flankierenden Massnahmen aus- und nicht abgebaut werden. Das Schweizer Schutzdispositiv ist zwar besser als jenes der EU, aber es genügt nicht.

Befürworterinnen und Befürworter des Rahmen­abkommens sagen, der Lohnschutz in der EU sei ­mittlerweile schon beinahe auf Schweizer Niveau.
Dank dem Druck der europäischen Gewerkschaften ist das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» jetzt endlich in den Entsenderichtlinien verankert. Aber Richtlinien sind das eine, ihre Durchsetzung das andere. Die EU hat dafür keine Instrumente. Und nur allzu oft schränkt der europäi­sche Gerichtshof Sanktions- und Kontrollmechanismen in den Ländern zuungunsten der Arbeit­nehmenden ein, behindert die Mitgliedstaaten, das auch durchzusetzen. Selbst stark exponierte Länder wie Österreich können darum nur einen Bruchteil unserer Kontrollen leisten. Darum gehört der Lohnschutz nicht ins Rahmenabkommen.

«Der Lohnschutz gehört nicht ins Rahmen­abkommen.»

Das hat der Gesamtbundesrat vor Verhandlungs­beginn ja auch als rote Linie definiert. Warum haben sich die Verhandlungsleitung und Aussen­minister Ignazio Cassis trotzdem darüber hinweggesetzt?
Da haben sich die Deregulierer aus der Schweiz mit Deregulierern aus der EU verbündet. Dass im Rahmen dieses Abkommens ausgerechnet der Lohnschutz in Frage gestellt wurde, zeigt, woher der Wind weht. Nämlich von rechts.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Es gibt einen Doppelangriff der Rechten auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Der Arbeitgeberverband fordert eine «Deregulierung des Arbeitsmarktes», die SVP weibelt für ihre Kündigungsinitiative mit dem Argument, dass dann auch die flankierenden Massnahmen abgeschafft und die Gewerkschaften geschwächt würden.

Eine konzertierte Aktion?
Zumindest eine Art politische Arbeitsteilung. Ein Teil der Arbeitgeber will das Arbeitsgesetz, die Gesamtarbeitsverträge und die FlaM schwächen. Politisch verbünden sie sich dafür je nach Dossier mit den Nationalkonservativen, mit den Neoliberalen oder mit allen zusammen. Wir spüren das auch in den Branchen. Die Unia hatte im vergangenen Jahr grosse GAV-Verhandlungen. Und überall wollen die Arbeitgeber «deregulieren» und «flexibilisieren». Auf dem Bau griffen sie letztes Jahr die Rente mit 60 an und wollten quasi rund um die Uhr arbeiten lassen. In der Metall- und Maschinenindustrie wollten sie die Wochenarbeitszeit von 40 auf 42 Stunden erhöhen, bei den Elektrikern gar von 40 auf 44 Stunden. Dank unserer grossen Mobilisierung konnten wir alle Angriffe abwehren.

Und dann kam das Interview von Cassis, in dem er den Lohnschutz in Frage stellte?
Genau! Cassis will den Lohnschutz im Rahmenabkommen opfern. Er stellt die Frage falsch: Europa oder Lohnschutz? – das hat auch einen Teil der Linken verunsichert. Darum war es zentral, dass die Unia, der SGB und auch Travail Suisse in den vergangenen Monaten bei dieser klaren Linie geblieben sind. Daran wird sich nichts ändern. Das haben wir auch dem Bundesrat klargemacht.

Der sagt aber, die EU wolle nicht mehr verhandeln.
Es gibt schon einen Weg: Der Bundesrat muss der EU klar sagen, dass dieses Rahmenabkommen keine Mehrheit in der Schweiz finden werde. Die bilateralen Verträge haben im Volk nur mit einem effizienten Lohnschutz eine Chance. Das hat uns die Geschichte der letzten 20 Jahre deutlich gezeigt. Zudem muss vor jeder weiteren Diskussion die Kündigungsinitiative der SVP vom Tisch. Sie will die Personenfreizügigkeit und damit die bilateralen Verträge insgesamt kippen. Eine Schwächung des Lohnschutzes im Rahmenabkommen wäre Wasser auf ihre Mühlen. Das darf nicht sein. Wir müssen diese Abstimmung unbedingt gewinnen. Und dann können wir ein Rahmenabkommen aushandeln, das die Arbeitnehmerinteressen schützt.

«Die Bilateralen haben im Volk nur mit effizientem Lohnschutz eine Chance.»

Stichwort SVP. Befürworter des Rahmenabkommens in der vorliegenden Form werfen den Gewerkschaften vor, Seite an Seite mit der Blocher-Partei zu kämpfen.
Das Gegenteil ist richtig. Lohnschutz, Nichtdiskriminierung und Personenfreizügigkeit gehören unauflöslich zusammen. Das ist eine historische Errungenschaft für alle Arbeitnehmenden. Und wir müssen sie gemeinsam weiterentwickeln, mit starken flankierenden Massnahmen.

Was ist jetzt wichtig?
Die SVP-Kündigungsinitiative ist brandgefährlich. Kommt sie durch, geht es letztlich um die Kündigung der bilateralen Verträge. Das wäre quasi ein Schweizer Brexit. Der Schwexit. Dagegen müssen wir die Kräfte bündeln. Wir erwarten auch von den Arbeitgebern und den bürgerlichen Parteien, dass sie das Rahmenabkommen zurückstellen und sich entschieden gegen diese Initiative positionieren.

Tun sie das nicht bereits?
Mit Worten schon. Aber ich sehe noch bei vielen Arbeitgebern und bürgerlichen Politikerinnen und Politikern eine ähnliche Haltung wie bei der Masseneinwanderungsinitia­tive. Die hat man bei den Bürgerlichen auch nicht ernst genommen und dann die Quittung bekommen.

Wie meinen Sie das?
Die Abstimmungsanalyse zeigte damals, dass die entscheidenden Ja-Stimmen bei der Masseneinwanderungsinitiative von den 55- bis 65jährigen gekommen sind. Das ist jene Altersgruppe, die auf dem Arbeitsmarkt besonders unter Druck steht. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es braucht klare Signale, dass man die Befürchtungen und Sorgen der Arbeitnehmenden ernst nimmt. Dies hat jetzt auch der Bundesrat verstanden. Das ist positiv. Doch die jetzt beschlossenen Massnahmen nützen ­bezüglich Lohnschutz nichts. Die Realität in der Arbeitswelt ist krasser geworden – wie gerade auch die Fälle Goger, Ceneri und Zaffaroni zeigen. Drum braucht’s auch für die paritätischen Kommissionen schärfere Massnahmen. Der Lohnschutz muss weiterentwickelt werden – und nicht geschwächt, wie es das vorliegende Rahmenabkommen will.

Und die Arbeitgeber machen da mit?
Die Spitzen der nationalen Verbände sind zum Teil noch sehr marktideologisch unterwegs. Aber viele Patrons an der Basis erleben eine andere Realität. Sie wissen: ohne effizienten Lohnschutz haben zum Beispiel anständige Gewerbebetriebe keine Chance. Auch die Wirtschaft ist auf eine faire Regulierung des Arbeitsmarktes angewiesen.

Konflikt in der Unia Berner Oberland: «Die Unia steckt nicht in einer Krise»

work: Am 1. Mai gab es in Basel eine Protestaktion von ­einigen Unia-Mitgliedern, die den Rücktritt der Geschäftsleitung ­gefordert haben. Ist die Unia in einer Krise?
Vania Alleva: Ich kannte diese Forderung aus den Medien. Jetzt ist ein Antrag für den Zentralvorstand von einer Einzelperson eingetroffen. Wir werden diesen diskutieren. Ich bin viel in den Regionen und bei unserer Basis unterwegs. Deshalb weiss ich, dass diese Forderung nicht repräsentativ ist: Kein Vorstand, kein Gremium und keine Interessengruppe der Unia hat eine solche Forderung bisher gestellt. Dass wir bei fast 200’000 Mitgliedern auch einige haben, die nicht mit der Leitung einverstanden sind, ist für eine Grossorganisation wie die Unia nichts als normal.

Aber es ist schon nicht ganz normal, dass in der Zeitung und im Fernsehen am 1. Mai der Rücktritt der Präsidentin und der Geschäftsleitung der grössten Gewerkschaft gefordert wird, oder?
Einverstanden. Es hat mich geärgert, dass für einen Teil der Medien am 1. Mai nicht die berechtigten Forderungen der Frauen und nicht die ausgezeichnet besuchten Kundgebungen im Vordergrund standen, sondern eine angebliche Krise in der Unia. Wenn man hinschaut, dann fällt diese Geschichte in sich zusammen. Der ehemalige Präsident im Berner Oberland wurde von seiner Basis mit einem deutlichen Resultat abgewählt – nicht von der Geschäftsleitung der Unia abgesetzt oder von mir.

Die Kritik war auch stark auf Ihre Person ausgerichtet, Sie seien nicht in der Lage, die Unia alleine zu führen, es brauche wieder ein Co-Präsidium. Ist das eine Diskussion in der Unia?
Nicht, dass ich wüsste. Ich wurde am letzten Kongress mit einer grossen Unterstützung zur Präsidentin gewählt. Sachlich begründete, konstruktive Kritik begrüsse ich. Sie hilft uns, bessere Resultate zu erreichen. Als Präsidentin stehe ich gegenüber der ganzen Organisation in der Verantwortung. Meine Aufgabe ist es, tragfähige Lösungen für die ganze Organisation zu suchen und umzusetzen.


Unia-Frauen-Präsidentin Mattmann lupft’s den Hut:«Attacken gegen die Unia-Chefin sind eine Sauerei!»

Ueli Balmer, der abgewählte Präsident der Region Berner Oberland, warf Unia-Chefin Vania Alleva in einem Interview «diktatorische Führung» und «Überforderung» vor. Das ärgert Basismitglied und Unia-Frauen-Präsidentin Ursula Mattmann.

Ursula Mattmann, Unia-Basismitglied: «Warum verbreitet Balmer solchen Chabis?» (Foto: ZVG)

«Ich war stocksauer, als ich diese Vorwürfe las. Von wegen, ­Vania Alleva sei überfordert und reagiere deshalb diktatorisch! Und von wegen, als Vania Alleva sich noch mit Renzo ­Ambrosetti das Präsidium geteilt habe, habe alles funktioniert! Als ­frühere Präsidentin der Unia-Delegiertenversammlung habe ich mehrere Co-Präsidien der Unia von ganz nah miterlebt. Auch das erste Co-Präsidium mit Renzo Ambrosetti und Andreas Rieger. Also mit zwei Männern. Ich hatte Einblick in interne Protokolle und Dossiers, und ich erinnere mich noch genau: Meine erste Amtshandlung damals hatte mit einem Konflikt in Bern zu tun. Was Ueli Balmer behauptet, ist also schlicht nicht wahr. Ich kenne ihn schon lange, und er weiss so gut wie ich: ­Interne Konflikte gab es immer wieder. Gerade im Kanton Bern.

Zu behaupten, die Unia sei zu gross für eine Führungsperson, ist einfach unter der Gürtellinie. Würde Balmer das auch bei ­einem Mann sagen? Vania Alleva ist intern nicht umstritten. Sie hat den Laden voll im Griff. Sie ist kompetent und transparent. Auch im Berner-Oberland-Konflikt ging sie nach Statuten vor. Warum also verbreitet Ueli Balmer solchen Chabis? Er schadet damit der ganzen Organisation. Ich versteh das einfach nicht. Wenn einer von der Basis korrekt abgewählt worden ist – und das wurde Ueli ­Balmer, mit 46 gegen 6 Stimmen –, dann soll er das doch einfach akzeptieren!»


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