Exklusiv: Das grosse work-Interview mit Rosa Luxemburg

«Jetzt rede ich!»

Patricia D'Incau und Marie-Josée Kuhn

Zum hundertsten Todestag von Rosa Luxemburg gelang es work, ein Interview mit der grossen Revolutionärin zu führen. Exklusiv! Das war möglich, weil wir ihre Schriften studierten und das Interview gleich selber schrieben.*

«ICH BIN ALLZEIT AUF DEM POSTEN!» Rosa Luxemburg, undatierte Aufnahme. (Foto: Keystone)

work: Rosa Luxemburg, wir dachten, Sie seien schon lange tot?!
Rosa Luxemburg: Nein, nein, ich bin allzeit auf dem Posten und werde bei der nächsten Möglichkeit wieder dem Weltklavier mit allen zehn Fingern in die Tasten fallen, dass es dröhnt.

Erstaunlich, immerhin werden Sie am 5. März 148 Jahre alt. Wie halten Sie sich fit?
Also, morgens vor acht werde ich wach, hopse ins Vorzimmer, schnappe Zeitungen und Briefe, dann schwupp unter das Federbett, und lese die wichtigsten Sachen. Dann reibe ich mich kalt ab, regelmässig, ­jeden Tag, dann kleide ich mich an, trinke auf dem Balkon ein Glas heisse Milch mit Butterbrot. Dann ziehe ich mich ordentlich an und gehe für eine Stunde in den Tiergarten spazieren, regelmässig, jeden Tag, bei jedem Wetter. Dann gehe ich wieder nach Hause, ziehe mich um und schreibe meine Notizen oder Briefe …

Rosa Luxemburg (1871–1919):
Mutige Sozialistin

Rosa Luxemburg wurde am 5. März 1871 im polnischen Zamo geboren. Ihr ursprüng­licher Name lautete Rozalia Luksenburg. Der Vater, ein jüdischer Holzhändler, betrieb ein kleines Geschäft. Aufgrund einer Fehl­bildung der Hüfte war Rosa lange ans Bett gefesselt. Als Jugendliche schloss sie sich der verbotenen sozialistischen Partei «Proletariat» an.

TAUSENDE SEITEN. Im Februar 1889 ging ­Luxemburg nach Zürich. Dort promovierte sie in Nationalökonomie. Ab 1898 stieg sie in Berlin zu einer der bedeutendsten ­Figuren der SPD auf. Als die Partei 1914 den Ersten Weltkrieg billigte, kam es zum grossen Bruch. Luxemburg kämpfte bis zum Schluss gegen den imperialistischen Krieg. Am 15. Januar 1919 wurde sie ermordet. Ihr Lebenswerk ist Tausende Seiten stark. Es umfasst neben politischen Reden und Aufsätzen auch intime Briefe an ihre Freundinnen und Freunde.

Wer macht bei ­Ihnen eigentlich den Haushalt?
Sie meinen die kümmer­liche Geistlosigkeit und Kleinlichkeit des häuslichen Waltens?

Ja, Kochen zum Beispiel.
Am Mittag esse ich um 12.30 zu Hause bei meiner Wirtin für 60 Pfennige in meinem Zimmer, das Mittagessen ist ausgezeichnet und äusserst gesund. Nach dem Mittagessen schwupp auf das Kanapee, schlafen! Gegen drei stehe ich auf, trinke Tee, um acht esse ich Abendbrot: drei weiche Eier, Brot mit Butter, mit Käse oder Schinken und noch ein Glas heisse Milch. Gegen zehn trinke ich noch ein Glas Milch, einen Liter täglich …

Sie sind für viele Feministinnen ein Idol, freut Sie das?
Ich hatte keine Ahnung von dieser ganzen Fülle von Tatsachen aus der Weiberwelt!

Ja, aber …
Die haben mir ein Mandat zur Frauenkonferenz gegeben, ich musste also hin, wenn ich auch nicht wusste, was ich dort reden sollte.

Sie sind also gar keine Feministin?
Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung. Da stöhnt das Weib des Kleinbauern, das unter der Last des Lebens schier zusammenbricht. Dort in Deutsch-Afrika in der Kalahariwüste bleichen die Knochen wehrloser Hereroweiber, die von der deutschen Soldateska in den grausen Tod von Hunger und Durst gehetzt worden sind …

Treffend gesagt!
… in den hohen Felsen des Putumayo verhallen, von der Welt ungehört, Todesschreie ­gemarterter Indianerweiber in den Gummiplantagen internationaler Kapitalisten. Proletarierin, Ärmste der Armen, Rechtloseste der Rechtlosen, eile zum Kampfe um die Befreiung des Frauengeschlechts und des Menschengeschlechts von den Schrecken der ­Kapitalherrschaft!

Am 14. Juni 2019 wird in der Schweiz der zweite Frauenstreik steigen, was halten Sie davon?
Jeder Schritt vorwärts kann nur in einer grossen kühnen Aktion oder vielmehr in vielen langen Aktionen der Massen draussen auf der Strasse erworben werden.

Und wo soll das genau hinführen?
Die Revolution ist grossartig, alles andere ist Quark!

«Eine Welt weiblichen Jammers
wartet auf Erlösung.»

Bitte?
Die kapitalistische Weltwirtschaft hat einen Produktionszweig nach dem anderen ergriffen, sich eines Landes nach dem anderen bemächtigt. Mit Dampf und Elektrizität, mit Feuer und Schwert hat sie sich in die entferntesten Erdwinkel Eingang verschafft. Bis hierhin und nicht weiter!

Sie reden ja wie Juso-Chefin Tamara Funiciello!
Es lebe der Kampf! Mit der Art und Weise, wie man in der Partei schreibt, bin ich allerdings unzufrieden. Es ist alles so konventionell, so hölzern, so schablonenhaft …

Sie reden von den Sozialdemokraten?
… farbloses und klangloses Gesurr!

Bei den Sozialdemokraten?
Das Geschnatter dieser Bande quält mich unbeschreiblich. Und mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den Genossen.

Warum denn das?
Noch nie hat eine politische Partei alles, was sie war und besass, so inbrünstig auf dem Altar einer Sache hingegeben, gegen die bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen sie sich und der Welt tausendmal schwor.

Sie haben es den deutschen Sozis bis heute nicht verziehen, dass sie in den Ersten Weltkrieg einwilligten?
Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und ihre parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern.

Und wieso?
Solange es Privateigentum, Ausbeutung, Reichtum und Armut gibt, sind Kriege unvermeidlich, und jeder Krieg verbreitet um sich Tod und Pesthauch, Vernichtung und Elend.

Kapitalismus heisst also unweigerlich auch Krieg?
Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.

In Syrien tötet der IS mit Schweizer Handgranaten.
Der Mensch wird mir immer unheimlicher.

Ex-Armeeminister Guy Parmelin wollte das lasche Schweizer Waffenexport­gesetz sogar noch lockern.
Ich werde den Opa schon aus der Ecke herausholen und mit geisselnden Worten festnageln.

Sie kennen die Schweiz vom Studium in Zürich her?
Hier ist es schön! Fliegen summen in der Luft, unermüdlich, auch Krähen schreien, Hühner gackern an den Bauernhäusern, sonst hört man nichts als das Rascheln des Grases beim leisen Winde.

Sehen Sie die Schweiz nicht etwas zu idyllisch?
Ich verzeihe euch und gebe euch den väterlichen Rat: Bessert euch!

Sie meinen den mütterlichen Rat?
Sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.

«Die Revolution ist grossartig, alles andere ist Quark!»

Hören wir da eine Spitze gegen Lenin heraus?
Es hiesse von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, hätte man ihnen auch noch zugemutet, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war.

Wie beurteilen Sie die Politik von Wladimir Putin?
Wir werden uns an dieser harten Nuss manchen Zahn ausbrechen, ehe wir nur aus den gröbsten der tausend komplizierten Schwierigkeiten heraus sind.

Und was halten Sie von US-Präsident Donald Trump?
Er hat es mindestens verdient, dass ihn jeder anständige Mensch gleich nach Öffnung der Tür alle Treppen hinunterwirft. Zu diesem Zweck lohnt es sich, mindestens im vierten Stock zu wohnen.

Sie sind aber rabiat!
Am fröhlichsten lebe ich im Sturm. Gestern aber war ich nahe dran, den Entschluss zu fassen, mit einem Schlag diese ganze gottverdammte Politik sausen zu lassen, und pfeife auf die ganze Welt.

Was würden Sie denn ohne die Politik machen?
Heute fange ich wieder an zu botanisieren, aufmerksam beobachtet von der Mimi, die auf dem Tisch mit der roten Plüschdecke mit untergeschlagenen Pfötlein liegt.

Das würde Sie ausfüllen?
Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin gar kein richtiger Mensch, sondern irgendein Vogel oder anderes Tier in misslungener Mensch­gestalt, innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag.

Dann waren Sie aber auf viel zu vielen Parteitagen!
Aber ich muss doch jemanden haben, der mir glaubt, dass ich nur aus Versehen im Strudel der Weltgeschichte herumkreisle, eigentlich aber zum Gänsehüten geboren bin.

Aber Sie sind doch eine der wichtigsten politischen Denkerinnen des 20. Jahr­hunderts und grosse Revolutionärin?
Ich war, ich bin, ich werde sein.

* Die Antworten sind Zitate von Rosa Luxemburg oder beruhen auf ihren Texten.


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1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Ja, wer wird denn da wohlfeil und unkritisch abgefeiert? Man stelle sich vor, wieviel Unheil Generationen von Menschen in Russland und anderswo erspart geblieben wäre, hätte jemand rechtzeitig Lenin den Stecker gezogen. In Deutschland wurde genau der Stecker gezogen. Gut so!

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