work zu Besuch am 14. Weltsozialforum in Salvador da Bahia
Angetroffen am diesjährigen Weltsozialforum

work-Redaktorin Patricia D’Incau sprach mit zwei brasilianischen Gewerkschafterinnen, einem Landbesetzer und einer kurdischen Aktivistin aus Syrien.

Milca Martins (41), Hausangestellte, Salvador da Bahia, Brasilien«Die Reichen holen sich die Kinder auf dem Land»

Als die anderen ihren ersten Schultag hatten, begann für Milca Martins das Arbeitsleben: Mit 7 wurde das Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen Hausangestellte. Ein Gesetz, das dies verboten hätte, gab es 1984 noch nicht. Heute ist Kinderarbeit in Brasilien zwar verboten – trotzdem ergeht es noch immer vielen wie Milca Martins. Sie erzählt: «Reiche Familien holen sich Kinder vom Land und lassen sie im Haushalt arbeiten. Unter sklavenähnlichen Bedingungen.» Der Staat kontrolliert kaum. Die Folgen für die kleinen Hausangestellten: sie erhalten keine Schulbildung, erfahren aber Gewalt und sexuellen Missbrauch. Auch das hat Martins erlebt: «Deshalb weiss ich, wie wichtig es ist, in der Gewerkschaft zu sein», sagt sie.

Auch Martins hat Gewalt bei der Arbeit erlebt.

GUTE KRIPPEN. Milca Martins Lachen ist herzlich, ihre Forderungen sind klar: Hausangestellte müssten mehr verdienen als das gesetzliche Minimum von 937 Reais (rund 270 Franken). Ausserdem brauche es Weiterbildungen und Wohnprogramme. Denn: Alle, die nicht lesen und schreiben könnten und dort lebten, wo sie auch arbeiteten, seien den Hausherrren und Hausherrinnen ausgeliefert. Und schliesslich müsse es auch Krippen geben für die Kinder von Hausangestellten. «Und nicht einfach irgendwelche Krippen», sagt Martins. Sondern solche, wie sie die Reichen auch hätten. Mit Essen und guter Betreuung.

Für Martins, die selber Mutter ist, eine Herzensangelegenheit: «Ich stehe morgens um 4 Uhr auf, damit ich pünktlich bei der Arbeit bin. Dort mache ich das Kind meiner Chefin für die Schule parat, während mein eigenes den ganzen Tag alleine zu Hause ist.» Milca Martins mag nicht darauf hoffen, dass sich von selber etwas ändert. Sie sagt: «Jene, die für die Umsetzung der Gesetze zuständig wären, sind dieselben, die auch Hausangestellte haben.» Deshalb sei es wichtig, dass ihre Gewerkschaft, «Sindoméstico», Druck mache. Und stärker werde.

TOLLE APP. Noch ist nur ein Bruchteil der halben Million Hausangestellten in Salvador da Bahia organisiert. Sie zu erreichen ist nicht einfach. Das wird sich jetzt vielleicht ändern: mit der App «Laudelina». Sie bietet einen Lohnrechner, Rechtsauskünfte, einen Notruf und die Möglichkeit, mit anderen Hausangestellten in Kontakt zu treten. Geld für die App hat die Gewerkschaft aus dem Spendentopf von Google bekommen. Martins freut sich: «Das ist eine tolle Sache! Denn ein Handy haben alle.»


Damião Muniz da Silva (41), Landbesetzer, Salvador da Bahia, Brasilien«Das Land muss dem Volk gehören»

Damião Muniz da Silva kommt nur knapp durch die Tür, ohne sich den Kopf zu stossen. Mit offenen Armen begrüsst der Hüne die Gäste aus der Schweiz. Für ihn, seine Frau und die dreissig Familien, die hier leben, ist heute ein besonderer Tag.

Vor genau zwei Jahren wurde ihr kleines Dorf legalisiert. Seither müssen sie nicht mehr befürchten, dass die Polizei sie vertreibt. Bis es jedoch so weit war, hatte es lange gedauert. Bereits 2006 besetzten da Silva und die anderen das Land, auf dem sie heute leben. Sie wollten es wieder bewirtschaften, nachdem es jahrelang brachgelegen hatte. In Brasilien keine Seltenheit: 90 von 388 Millionen Hektaren werden nicht genutzt und veröden. Während es Tausenden Menschen an einer Lebensgrundlage fehlt.

KAMPF UM LAND. Damião Muniz da Silva will das ändern. An mehr als 17 Landbesetzungen war er mittlerweile beteiligt. Zusammen mit seinem Movimento de Luta pela Terra (MLP). Es ist Teil der Landlosenbewegung, die seit den 1980er Jahren in ganz Brasilien für eine gerechtere Verteilung von Landbesitz kämpft. Und das geht so: Das Movimento besetzt Land und übergibt es jenen, die es brauchen. Vor allem an Kleinbäuerinnen und Landarbeiter. An Menschen, «die früher dort gelebt haben und von den Grossgrundbesitzern vertrieben wurden», erklärt da Silva.

VERLORENER BRUDER. Die Landlosenbewegung in Brasilien hat die Verfassung auf ihrer Seite. Diese schreibt nämlich vor, dass das Land genutzt werden müsse. Trotzdem machen sich da Silva und seine Leute mächtige Feinde. Besetzen sie Brachland, kommen fast immer die Polizei oder die Paramilitärs. Und häufig schiessen sie. Wie damals auf da Silvas Zwillingsbruder Cosme. Da Silva erinnert sich: «Vor den ­Augen seiner Frau und der kleinen Tochter wurde er hingerichtet.» Aufgegeben hat da Silva trotzdem nicht. Er sagt: «Das Land muss einfach dem Volk gehören.»


Dulcilene Morais (53), Baugewerkschafterin, Recife, Brasilien
«Die Gewalt ist erschreckend»

Dulcilene Morais sitzt in einem Meer von bunten Stühlen. Konzentriert macht sie sich letzte Notizen. Sie weiss genau, worüber sie gleich sprechen will. Über ihre Branche, den Bau – und über die Frauen, die in dieser Männerdomäne oft vergessen gehen.

Rund 200’000 Frauen arbeiten in Brasilien im Bausektor. Vor allem als Nothelferinnen, Logisitikerinnen und adminis­trative Kräfte. Aber auch als Schweisserinnen und Ingenieurinnen. Für sie ist die Lage im Moment besonders schwierig. Seit drei Jahren steckt Brasiliens Baubranche in einer Rezession. Viele Baustellen stehen still ­wegen Korruptionsskandalen. Schaden tut das allen Beschäftigten. Aber den Frauen im speziellen. Morais sagt: «Kommt es zu Entlassungen, trifft es Frauen zuerst.» Unterschiede gibt es auch beim Lohn. Obwohl die Lohngleichheit bereits seit den 30er Jahren in der Verfassung steht, verdienen Frauen noch immer 30 Prozent weniger.

GEWALT IM BERUF. Besonders Sorgen macht der 53jährigen die ansteigende Gewalt im Land. «Es gibt eine Zunahme von Morden, Handgreiflichkeiten und Diskriminierung», sagt Morais. Allein in ihrem Staat, Pernambuco, seien letztes Jahr min­destens 300 Frauen ermordet ­worden. Die Gewerkschafterin weiss: Übergriffe passieren auch auf dem Bau. Anzügliche Sprüche gehören zur Tagesordnung, und oft bleibt es nicht bloss bei Worten. Morais sagt: «Frauen erleben auf der Arbeit oft sexuelle Belästigung oder gar Gewalt.» Mit Kampagnen auf dem Bau versucht ihre Gewerkschaft zu sensibilisieren. Weil der Staat nichts tut, will Morais bei der ­Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ausserdem eine formelle politische Anzeige einreichen. Am wichtigsten sei es, dass sich die Frauen selber wehren könnten. «Sie müssen fordern, anständig behandelt zu werden, und sich trauen, Anzeige zu erstatten», sagt Morais.

SICH WEHREN. Ein zentraler Punkt sei dabei die Bildung. Aber auch, dass Frauen sichtbar werden. Etwa, wenn Gewerkschaften und Unternehmen über Arbeitsbedingungen verhandeln. Morais sagt: «Egal, wie solidarisch die männlichen Kollegen sind: wenn die Frauen nicht mit am Tisch sitzen, können Themen wie Lohngleichheit oder sexuelle Gewalt schnell vergessen gehen.»


Rohash Shexo (44), kurdische Aktivistin, Afrin, Nordsyrien«Das Schweigen tötet»

Rohash Shexo schaut aufs Foto, das die Journalistin eben von ihr gemacht hat. Sie sagt: «Na gut, ich lächle halt nicht. Aber wir haben auch keinen Grund dazu.»

Shexo kommt direkt aus dem Krieg. Aus Afrin, einem Distrikt im Nordwesten von Syrien, an der Grenze zur Türkei. Rund 800’000 Menschen lebten dort bis vor kurzem, fast die Hälfte waren vor dem Krieg aus Aleppo geflüchtet.

Jetzt müssen sie wieder ­fliehen. Dieses Mal vor der türkischen Armee. Vor rund zwei Monaten begann der Angriff. Menschen sterben, die Infrastruktur wird gezielt zerstört. Shexo sagt: «Erdogan will das Gebiet säubern, uns Kurdinnen und Kurden vernichten.» Der türkische Präsident gibt das offen zu.

POLITISCHES LABOR. In Afrin geht es nicht nur um Territorium, sondern auch um Ideo­logie. Denn: Mitten im Syrienkrieg haben Kurdinnen und ­Kurden – zusammen mit Menschen assyrischer, arabischer und turkmenischer Herkunft – die Autonome Föderation Nordsyrien ausgerufen. Kurz: Rojava. Kein Staat, aber ein unabhängiges Gebiet, zu dem drei «Kantone» gehören: Kobanê, Cizîrê und Efrîn (Afrin).

Es soll eine demokratische Alternative sein zu den autori­tären Systemen im Mittleren ­Osten. Shexo erklärt: «Bei uns haben alle dieselben Rechte. Unabhängig von Ethnie, Hautfarbe, Religion und Geschlecht.» Das zeigt sich auch im politischen System: Ein Parlament gibt es nicht. Stattdessen Räte und Komitees, in denen alle Mitglied werden können. Wobei Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten sind. Alle Bereiche des Lebens – von Wirtschaft über Bildung bis zur Justiz – werden so gemeinsam geregelt. Bisher ist es gelungen, dieses Projekt zu schützen. Etwa 2015 im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Als die Kurden die islamistischen Gotteskrieger vertrieben, jubelte der Westen. Heute, in Afrin, ist das anders.

SCHWEIGENDER WESTEN. Der Nato-Staat Türkei verletzt internationales Recht – mit englischen Waffen und Panzern aus Deutschland –, und Europa bleibt stumm. Rohash Shexo weiss: «Die Türkei ist ein wichtiger Partner.» Für das, was in ­Afrin passiert, macht sie die ­europäischen Länder deshalb mitverantwortlich. Denn: «Es sind nicht nur die Bomben, die uns töten. Sondern auch das Schweigen.»

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