Zehntausende am Weltsozialforum in Brasilien

Eine andere Welt ist möglich

Patricia D'Incau

Während fünf Tagen traf sich die welt­­weite Sozialforum-Bewegung zum 14. Mal. work war in Brasilien mit dabei.

KARAWANE DER WELTVERÄNDERER. Tausende Menschen feierten in Salvador da Bahia die Eröffnung des Weltsozialforums. (Foto: Patricia D’Incau)

Es summt und hupt. Den beiden Äffchen ist das egal. Ungestört turnen sie vor dem Hotel von Ast zu Ast. Schliesslich summt und hupt es ständig in der brasilianischen Küstenstadt Salvador da Bahia, der Wiege des grössten Strassenkarnevals der Welt. Sie ist ein Juwel am Rande des Atlantiks, mit bunten Gebäuden und tristen Hochhäusern, ratternden Klimaanlagen und fröhlichem Stimmengewirr.

Der Karneval ist zwar vorbei, doch schon läuft der nächste Rummel: das Weltsozialforum (WSF). Rund hunderttausend Menschen sind dafür nach Salvador de Bahia gereist. Bei 29 Grad im Schatten wollen sie besprechen, wie diese Welt noch zu retten sei.

FÜR GROSS UND KLEIN: Impressionen vom Weltsozialforum in Brasilien. Mittendrin: Unia-Frau Rita Schiavi (links). (Fotos: Patricia D’Incau, Alexandrina Farinha)

AUFSTAND UNTER PALMEN

Vieles liegt im Argen: Umweltzerstörung und Steuerflucht, Ressourcenraub und bewaffnete Konflikte, Milliarden für ein paar Einzelne und Brösmeli für die Bevölkerung. Es sind dieselben Fragen wie schon vor fast zwanzig Jahren. Beim ersten Weltsozialforum. Es ist ein Kind der globalisierungskritischen Bewegung, die um die Jahrtausendwende Schlagzeilen machte. Seattle, Genua, Davos: wo immer sich die Wirtschaftselite traf, gab es Widerstand. Der gemeinsame Nenner der Protestierenden: der Neoliberalismus, der den Profit über das Wohl der Bevölkerung stellt. Die Zielscheiben der Protestierenden: G 8, Welthandelsorganisation (WTO), Internationaler Währungsfonds (IWF) und das Weltwirtschaftsforum (WEF).

Das WEF verhalf dem Sozialforum schliesslich zum Erfolg: Als die Reichen und Mächtigen im Januar 2001 ein weiteres Mal in Davos eintrudelten, um im exklusiven Kreise den Zustand der Welt zu verhandeln, versammelten sich ihre Gegnerinnen und Gegner unter der brasilianischen Sonne. Ihr Motto: «Eine andere Welt ist möglich!» Mit dabei war damals Erica Hennequin.

VOR ORT. work-Redaktorin Patricia D’Incau.

PROTEST UND VOLKSFEST

Sie sitzt für die Grünen im jurassischen Kantonsparlament, und sie erinnert sich: Aufregend sei’s gewesen, ein richtiges Volksfest. Hennequin: «Etwas, das es vorher noch nie gegeben hat.» Weil das Weltso­zialforum damals zeitgleich mit dem WEF stattfand, war die Botschaft klar: «In Davos versammelten sich wenige Superreiche, in Porto Alegre Tausende aus dem Volk.»

Das schlug ein. Wo auch immer die Protestkarawane in den kommenden Jahren Halt machte (siehe Box), schaute die Weltöffentlichkeit hin. Und die US-Zeitung «New York Times» schrieb, da formiere sich «eine neue Supermacht».

Plötzlich zeigte sich, dass Wirtschafts­eliten und Grosskonzerne ihre Pläne tatsächlich nicht mehr so einfach wie bisher durchdrücken können. Die Verhandlungsrunde der Weltwirtschaftsorganisation (WTO) verlief 2003 im Sand. Die WTO wollte, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer ihre Türen uneingeschränkt öffnen müssen zugunsten des reichen Westens. Ohne dass sie noch eigene Regeln aufstellen können. Das wäre ein Freibrief für die Multis gewesen. Doch die Staaten im Süden, darunter Brasilien, sagten Nein. Ein Erfolg, der auch dem Weltsozial­forum zugeschrieben wurde.

LANGE DABEI. Erica Hennequin, Grüne Jura.

DAS BEISPIEL JURA

Auch im Jura blühte plötzlich der Geist der Revolte. Alcosuisse, der einzige Schweizer Ethanol-Lieferant, wollte in Delémont die erste Biotreibstoff-Raffinerie bauen. Sie sollte das zweitgrösste Unternehmen im Kanton werden. Der Plan: Bioethanol herstellen mit Zucker aus Brasilien.

Eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten wehrte sich. Grünen-Politikerin Hennequin war eine von ihnen. Am Weltsozialforum in der nordbrasilianischen Stadt Belém hatte sie 2009 eine Zuckerfabrik besuchen können. Sie erzählt: «Der Chef hat uns herumgeführt und gesagt, bei ihm gebe es ‹soziale Arbeit›.» Doch die Wahrheit sah anders aus: überlange Arbeitszeiten, schlechte Unterkünfte und ein kleiner Lohn, mit dem nur in betriebseigenen Geschäften eingekauft werden durfte. Noch schlimmer: Kurz vor dem Besuch hatte die Polizei mehrere Angestellte aus dem Fabrikgelände befreien müssen. Das erzählte Hannequin in Delémont, auf der Strasse und im Parlament. Der öffentliche Druck gegen das Projekt wuchs. Bis es 2011 schliesslich auf Eis gelegt wurde. Ein Erfolg, der für Hennequin auch mit dem Weltsozialforum zu tun hat.

Deshalb ist Erica Hennequin auch jetzt wieder dabei. In Salvador da Bahia. Viele andere bleiben mittlerweile aber weg. Von einer Krise des Sozialforums ist die Rede. Von den Medien, die sich nicht mehr dafür interessierten. Hauptsächlich deshalb, weil das Weltsozialforum bis heute keine gemeinsamen Beschlüsse fasst. Weil es nur Plattform sein will für unzählige Gruppen und Bewegungen, ohne selbst eine feste Organisation zu werden. Ein buntes Fest, zu dem alle eingeladen sind, ganz ohne Verpflichtungen. Gerade Verpflichtungen wären aber nötig, damit das Sozialforum wieder zu mehr Einfluss käme. Das sagen kritische Stimmen. Auch an diesen hat es nie gemangelt: seit Beginn wird dem Weltsozialforum das Ende prophezeit.

WICHTIGER AUSTAUSCH: Unia-Geschäftsleitungsmitglied Corinne Schärer (rechts) zu Besuch bei der Gewerkschaft SINTEPAV. (Fotos: Patricia D’Incau)

KRISE! WELCHE KRISE?

Von Krise war dieses Jahr allerdings wenig zu spüren. Im Mittelpunkt standen in Salvador da Bahia die Frauen. Zum Beispiel bei der brasilianischen Baugewerkschaft SINTEPAV. In Brasilien arbeiten mehr als 200’000 Frauen im Bausektor. Gewerkschafterin Dulcilene Morais fasst ihre Probleme so zusammen: «Sie erleben auf der Arbeit oft sexuelle Belästigung oder gar Gewalt. Und Frauen verdienen rund 30 Prozent weniger als ihre Kollegen.» Die Baugewerkschaft will das ändern.

So schliesst sich der Kreis zwischen Süd und Nord. Oder wie Unia-Geschäftsleitungsmitglied Corinne Schärer es am Treffen der Unia-Delegation mit SINTEPAV formuliert hat: «In Sachen Lohngleichheit ist der Kampf in Brasilien derselbe wie jener in der Schweiz.» In der Arbeitswelt würden alle Frauen mehr Schutz brauchen: in der Schweiz genauso wie in Brasilien.

FRAUEN BAUEN: Mehr als 200’000 Frauen arbeiten in Brasilien im Bausektor. (Fotos: Patricia D’Incau, Alexandrina Farinha)

Bewegte Geschichte

Mit der Austragung in Salvador da Bahia (Brasilien) kehrte das 14. Weltsozialforum in sein Ursprungsland Brasilien zurück. In der Zwischenzeit fand das Welt­sozialforum in anderen südamerikanischen Ländern sowie in Asien, Afrika und Nordamerika statt. Die wichtigsten Stationen des Welt­sozialforums:

2003, Porto Alegre (Brasi­lien): Das dritte Weltsozialforum erreichte erstmals 100 000 Teilnehmende. Das Forum war geprägt von der bevorstehenden Invasion der USA im Irak. Es stand am Anfang der grössten Anti-Kriegs-Demonstrationen in der Geschichte.

2004, Mumbai (Indien): Das Weltsozialforum fand zum ersten und bisher einzigen Mal in Asien statt. Schwerpunkt der Dis­kussionen war das Kastensystem Indiens.

2009, Belém (Brasilien): Die Amazonasstadt wurde wegen des Klimawandels als Austragungsort gewählt. Schwerpunkte waren Ökologie und Klimagerechtigkeit, die Probleme der indigenen Völker sowie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise.

2011, Dakar (Senegal): Zum ersten Mal fand das Weltsozial­forum in Afrika statt. Im Mittelpunkt standen die Themen Ressourcen und Ausbeutung sowie die Demokratiebewegungen in Afrika.

2013, Tunis (Tunesien): Das Weltsozialforum war geprägt von der Aufbruchstimmung des arabischen Frühlings. Nach der tunesischen Revolution fanden dort 2011 erstmals freie Wahlen statt.

2016, Montréal (Kanada): Das Weltsozialforum schlug erstmals seine Zelte in einem westlichen Industrieland auf. Im Mittelpunkt standen Themen wie Armut, Umweltschutz, Klima­wandel, Steuerflucht und Flüchtlingspolitik. Nur rund 50 000 Personen nahmen teil – unter anderem, weil die Teilnahme für viele Delegierte aus Afrika, Südamerika und Asien aus Kostengründen nicht möglich war. Oder weil sie keine Visa erhielten.

 

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