Es ist kein Rückschritt, leider
Die aktuelle Welle, welche die Frauenrechte erodieren lässt und viele Frauen an Leib und Leben bedroht, ist neu.

Eine halbe Million Menschen verdienen in der Schweiz einen Tieflohn. Das zeigen die Zahlen der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik (BFS). Das BFS definiert Tieflöhne als Bruttolöhne, die tiefer als zwei Drittel des Medianlohns von 6788 Franken sind. 2022 entsprach diese Schwelle, auf eine Vollzeitstelle hochgerechnet, 4525 Franken (mal 12) beziehungsweise 4177 Franken (mal 13). Wie die Grafik zeigt, ist ungefähr jede zehnte Stelle eine Tieflohnstelle. Dieser Anteil hält sich hartnäckig und hat sich in den letzten Jahren nicht verringert. In Branchen wie dem Coiffeur- und dem Gastgewerbe verdient sogar jede zweite Mitarbeiterin, jeder zweite Mitarbeiter einen Tieflohn. Besonders stark betroffen sind Frauen und Menschen ohne Schweizer Pass.
300 000 Menschen in der Schweiz sind trotz Erwerbsarbeit von Armut betroffen oder bedroht (sogenannte Working Poor). Ein bewährtes Mittel gegen Armut trotz Erwerbsarbeit sind gesetzliche Mindestlöhne. Anders als in vielen EU-Ländern gibt es in der Schweiz keinen gesetzlichen Mindestlohn. Umso wichtiger sind die Fortschritte in einigen Kantonen und Städten. Mittlerweile gibt es in fünf Kantonen Mindestlöhne: Neuenburg, Jura, Tessin, Genf und Basel-Stadt. In den Städten Zürich, Winterthur und Luzern soll ein städtischer Mindestlohn eingeführt werden. In einigen anderen Kantonen und Städten wurden Mindestlohninitiativen eingereicht.
Arbeitgeber und ihnen nahestehende Politiker führen einen ideologisch geprägten Kampf gegen gesetzliche Mindestlöhne. Ein besonders dreister Angriff ist die Motion des Obwaldner Ständerates Erich Ettlin (Die Mitte) mit dem irreführenden Titel «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen». Diese Motion will gesetzliche Mindestlöhne aushebeln, indem sie tieferen Mindestlöhnen in allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen den Vorrang geben will. Neben praktisch allen Kantonen ist selbst der Bundesrat gegen diese Motion. Trotzdem hat er eine Vorlage ausgearbeitet, die bald im Parlament behandelt wird.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns für gesetzliche Mindestlöhne einsetzen. Gegen die Angriffe der Arbeitgeber und für neue Mindestlöhne in den Kantonen und Städten.
Noémie Zurlinden ist Ökonomin bei der Unia.