Die Schweiz hinkt bei der Arbeitszeitverkürzung hinterher:

Wir sind Europameisterin im Chrampfen

Ralph Hug

Wir arbeiten am längsten in Europa. Muss das sein? Nein, schliesslich steigt die Produktivität. Und von der sollen alle etwas haben.

STUNDE UM STUNDE: In den vergangenen 20 Jahren sank die Arbeitszeit in der Schweiz kaum mehr – obwohl die Produktivität weiter anstieg. (Foto: Keystone)

Schon längst gilt bei unseren Nachbarn Deutschland und Frankreich die 35-Stunden-Woche. Und in Österreich wird gerade dafür gestreikt. Durchschnittlich rund 37,5 Stunden arbeiten sie auch in Dänemark und Norwegen. Nur die Schweiz lässt nach wie vor 41 Stunden arbeiten, das ist die Normalarbeitszeit bei Vollzeitarbeitenden. Wir chrampfen europaweit am längsten, noch vor Island und Rumänien. Zwar liegen wir rein statistisch mit durchschnittlich 36,5 Stunden pro erwerbstätige Person plötzlich wieder vorne. Aber nur, weil hier überdurchschnittlich viele Menschen Teilzeit arbeiten, vor allem Frauen.

Arbeitszeitverkürzung muss mit vollem Lohnausgleich einhergehen.

STAGNATION SEIT 2002

Zwischen 1973 und 2003 sank die Normalarbeitszeit kontinuierlich (siehe Timeline unten), in Zahlen: von 45,1 auf 41,7 Stunden. 2002 verwarf das Volk die Initiative des Gewerkschaftsbunds (SGB) für eine 36-Stunden-Woche. Seither stagniert die Entwicklung. In der Finanzkrise 2008 und der darauf folgenden Frankenkrise stand die Rettung von Arbeitsplätzen im Vordergrund. Und jetzt, in der ­Corona-Pandemie, war der Ausbau der Kurzarbeit wichtig.

Doch jetzt dreht der Wind, dank den Frauen: Sie machen Druck für kürzere Arbeitszeiten. Damit Familie und Erwerbsarbeit kompatibler werden. Das Signal am Frauenkongress des Gewerkschaftsbunds im letzten November war unmissverständlich: «Die 35-Stunden-Woche muss her, ohne Lohneinbussen und ohne intensivierte Arbeit!»

Eine bessere Verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern verlangt auch Unia-Chefin Vania Alleva (siehe Interview unten). Und SP-Politikerin Tamara Funiciello hat im Nationalrat eine ­Motion eingereicht, die die Einführung der 35-Stunden-Woche verlangt. Aber nicht sofort, sondern abgestuft in zehn Jahren, mit vollem Lohnausgleich für tiefe und mittlere Löhne. Wie viele Frauen ist Funiciello überzeugt: «Das würde für die Gleichstellung der Geschlechter sorgen.»

Das schiefe Verhältnis von ­Erwerbsarbeit (von Männern) und Care-Arbeit (von Frauen) muss ins Lot kommen, damit die Sorge­arbeit zu Hause nicht nur an den Frauen hängenbleibt. Und damit die Gleichberechtigung endlich verwirklicht, sprich: die Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben behoben wird.

RICHTIG VERKÜRZEN

Kürzere Arbeitszeiten bringen neben mehr Gesundheit, mehr Zeit für die Familie und mehr Lebensqualität auch mehr Stellen. Neue Arbeitsplätze. Wenn sie denn richtig durchgeführt wird. Und richtig bedeutet:

  • Die Arbeitszeitverkürzung muss mit vollem Lohnausgleich einhergehen. Sonst geht sie alleine auf die Kosten der Arbeitnehmenden. Und auch mit einem Personalausgleich. Fällt nämlich der Druck auf die ­Arbeitgeber weg, neue Stellen zu schaffen, führen verkürzte Arbeitszeiten nur zu mehr Stress und Burnout. Dieselbe Arbeit müsste dann in kürzerer Zeit erledigt ­werden. Das ist nicht der Sinn der ­Sache.
  • Gleichzeitig mit der Arbeitszeitverkürzung braucht es einen soliden Riegel gegen zu viele Überstunden. Das ist die Erfahrung aus Frankreich. Als dort Premierminister und Sozialist Lionel Jospin im Jahr 2002 die 35-Stunden-Woche dekretierte, weichten seine bürgerlichen Nachfolger das neue Regime prompt durch Ausnahmeregelungen bei den Überstunden wieder auf. Unter dem heutigen Staatspräsidenten Emmanuel ­Macron sind sogar Bestrebungen für eine 48-Stunden-Woche im Gang.

WER SOLL’S BEZAHLEN?

Die Arbeitgeber und die Wirtschaftslobby kämpfen mit den immergleichen Argumenten gegen eine Arbeitszeitverkürzung: Die Wettbewerbs­fähigkeit sei gefährdet, man könne das nicht verkraften, verkürzte Arbeitszeiten würden zu teuer – behaupten sie. Und verschweigen, dass die Schweizer Wirtschaft seit Jahrzehnten produktiver wird. Dank den Arbeitenden. Den Profit aus dieser höheren Produktivität sollen dar­um nicht allein die Firmen einstreichen. Er muss an die Arbeitenden verteilt werden, die ihn erwirtschaftet ­haben. In Form von Lohnerhöhungen oder eben Arbeitszeitverkürzungen.

Seit einem Jahrzehnt sind die Löhne kaum gestiegen, dafür ­die Kapitalgewinne umso mehr. Höchste Zeit, das zu ändern. Oder haben Sie etwa gehört, dass die deutsche Maschinen- und Metallindus­trie eingegangen wäre, seit sie die 35-Stunden-Woche eingeführt hat?

Reinhören: Gespräch über Arbeitszeit­verkürzung in Deutschland mit Sophie Jänicke, IG Metall: rebrand.ly/arbeitszeit


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