Autorin Shpresa Jashari über verdrängte Geschichte
«Das ist Grundlage für die Gummiburgen und Feindbilder rechter Politik»

Shpresa Jashari (43) forscht für ihr neues Romanprojekt «Arbeitskörper» im Bundesarchiv über die Geschichte der Saisonniers. Im Interview erklärt sie, was die verdrängte Schweizer Migrationsgeschichte mit den fremdenfeindlichen SVP-Initiativen zu tun hat. 

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SHPRESA JASHARI: «Die Saisonniers durften während fünf Jahren keinen einzigen Tag fehlen, weil sie sonst ihr Anrecht auf eine feste Aufenthaltsbewilligung verloren hätten.» (Foto: Michael Schoch)

work: Sie hatten im Spätsommer eine Lesung im ehemaligen Grenzsanitätszentrum in Buchs SG. Bis Anfang der 1990er Jahre führte die Schweiz dort bei Saisonniers entwürdigende Gesundheitschecks durch (zum work-Artikel). Wie fühlte es sich an, an diesem Ort eine Lesung zu halten?
Shpresa Jashari: Das war für mich sehr speziell, denn an diesem Ort kommen zwei Themen zusammen, die mich schon seit langer Zeit beschäftigen: die Arbeit und der Körper. Obwohl die menschlichen Körper verletzlich und individuell sind, hat man über sie in der Grenzsanität verfügt, als wären sie eine Ware. Die Kombination aus menschlicher Erfahrung und dem wirtschaftlichen Nutzen, dem gehe ich auch in meinem Romanprojekt «Arbeitskörper» nach.
 
Auch Ihr Vater musste sich in den 1970er und 1980er Jahren in Buchs regelmässig röntgen lassen. Was haben Sie sonst noch von Ihrem Vater über seine Zeit als Saisonnier mitgekriegt?
Wenn wir in der Schweiz unterwegs waren, dann erwähnte er immer die Gebäude, an denen er mitgebaut hat. Spannend finde ich auch die Geschichte, die man nicht sieht. Die Saisonniers durften während fünf Jahren keinen einzigen Tag fehlen, weil sie sonst ihr Anrecht auf eine feste Aufenthaltsbewilligung verloren hätten. Von meinem Vater hatte ich auch schon den Satz gehört: «Ich war keinen einzigen Tag krank.» Ich merkte, dass das Schweizer Arbeitsrecht und das Saisonnierstatut den persönlichen Stolz meines Vaters geprägt hatten. Mich interessieren diese Vorgänge, wie sich Gesetze sogar in so etwas Intimem wie unserer Gefühlswelt niederschlagen.
 
Sie sind für Ihre Recherche auch immer wieder im Bundesarchiv. Was finden Sie dort?
Die Akten im Bundesarchiv sind sehr spannend. Man sieht, wie stark die Arbeitgeber
mobilisiert haben, um die Saisonniers in die Schweiz zu holen. Die hatten intensivste Kontakte mit Regierungsstellen, auch in Jugoslawien. Man wollte so viele Arbeiter wie möglich in die Schweiz holen. Aber gleichzeitig gab es seit der Schwarzenbach-Initiative auch diese Fremdenfeindlichkeit. Es war ein permanentes Tauziehen. 
 
Wie könnte diese Geschichte sichtbarer gemacht werden?
Im Ruhrgebiet in Deutschland wurden in diesem Jahr Denkmäler errichtet für die «Gastarbeiter». Das streicht die Bedeutung dieser Menschen hervor. So etwas wünsche ich mir auch für die Schweiz. Doch offenbar kommt das nicht von offizieller Seite, deshalb muss die Zivilgesellschaft weiter daran arbeiten. Das macht zum Beispiel der Verein Tesoro, der die Aufarbeitung der Geschichte und des Leids von Saisonnierfamilien fordert, die ohne ihre Kinder leben oder diese verstecken mussten. Es muss möglichst bald passieren, denn die ehemaligen Saisonniers werden alt und sterben. Ich finde, sie sollten das Denkmal noch miterleben, denn es ist ihre Geschichte. Viele wollen nicht auffallen und keine Forderungen stellen.

SHPRESA JASHARI: «Die SVP überträgt die Vorstellungen von Überfremdung immer wieder in neue Verpackungen.» (Foto: Michael Schoch)

Die öffentliche Debatte zur Migration wird derzeit durch die SVP-Initiative zur 10-Millionen-Schweiz dominiert.
Es ist sehr unheimlich zu sehen, wie es seit der Schwarzenbach-Initiative eine Kontinuität gibt. Die SVP hat das Programm der «Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» aus den 1960er Jahren «copy-paste» übernommen. Die SVP überträgt die Vorstellungen von Überfremdung immer wieder in neue Verpackungen. Wir müssen diese Wiederholungen wahrnehmen und merken, welche falschen und rassistischen Kategorien in die Gesellschaft reingebracht werden. 
 
Könnte die Anerkennung der Geschichte der Saisonniers dabei helfen?
Dieser Zusammenhang ist für mich offensichtlich. Dass wir diese Geschichte nicht aufgearbeitet haben, ist eine wesentliche Grundlage für die Gummiburgen und die Feindbilder rechter Politik. Das Saisonnierstatut thematisiere ich auch häufig in meinen Vorlesungen. In einem Saal mit hundert vorwiegend jungen Leuten melden sich normalerweise nur zwei bis drei Personen, die das Thema kennen. Die meisten Leute wissen wenig über diese Geschichte der Saisonniers und auch nichts über die Schwarzenbach-Initiative. 
 
Wie schätzen Sie aktuell die Bewegung für eine Anerkennung der Schweiz als postmigrantische Gesellschaft ein? 
Die Bewegung ist noch vielfältiger geworden. Viele sind neu dazugekommen und haben sich vernetzt. Und natürlich haben Social Media die Möglichkeiten eröffnet, sich Gehör zu verschaffen. Aber auch im Mainstream sind migrantische Stimmen präsenter. Und ich habe gelernt: Wir als «anders» wahrgenommene Personen, die zum Teil unter prekären Bedingungen aufwachsen, wir müssen nicht alles perfekt machen. Je mehr verschiedene Stimmen wir in der Politik, am Stammtisch, in den Medien, wo auch immer hören, desto besser.
 
Shpresa Jashari arbeitet als Dozentin zu sozialer Ungleichheit, Migration und Bildungschancen an der Pädagogischen Hochschule Zug. Mit einem Förderbeitrag des Kantons Schaffhausen recherchiert sie derzeit für ihr Romanprojekt «Arbeitskörper». 

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