30 Tage, 12 Krankenhäuser, 3 Tarifverträge
In der Pflege streiken? Das geht!

Silvia Habekost war Teil des historischen Streiks der Berliner Krankenhausbeschäftigten. Im Gespräch mit work erklärt sie, wie ein Spitalbetrieb überhaupt die Arbeit niederlegen kann. Und was die Schweizer Pflegekräfte davon lernen können.

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PFLEGENDE HABEN IHRE ARBEIT NIEDERGELEGT: Silvia Habekost berichtet vom Streik des Berliner Spitalpersonals im Jahr 2021.

«Der Fachkräftemangel in der Pflege ist eines unserer Druckmittel und gibt uns die Macht, an den Arbeitsbedingungen zu rütteln», sagt Silvia Habekost. Sie arbeitet selbst seit über 40 Jahren im Gesundheitswesen und kennt als Anästhesiepflegerin in einem Berliner Krankenhaus die miserablen Arbeitsbedingungen aus erster Hand. Profit, Profit, Profit – bis die Pflegenden, die das Gesundheitssystem tragen, wegbrechen. Habekost sagt:

Die eigene Gesundheit aufs Spiel setzen für die Gesundheit der Patientinnen und Patienten: Diese Rechnung geht irgendwann nicht mehr auf.

Viele werden selbst krank oder verlassen den Beruf. Und genau wegen dieser Ausgangslage gelang dem Spitalpersonal der Berliner Kliniken Charité und Vivantes der Super-GAU: Streik im Spital!

Im Herbst 2021 streikte nämlich das Personal der Kliniken während 30 Tagen. Die Streikbereitschaft war wegen des Leidensdrucks unter dem Personal sehr hoch. Dazu kam noch die Pandemie, welche die Schwierigkeiten des Pflegepersonals für die Bevölkerung noch sichtbarer machte. Gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi kämpften die nichtärztlichen Beschäftigten für Entlastung, für bessere Bezahlung und allgemein für einen besseren Tarifvertrag: das deutsche Pendant zum Schweizer Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Doch wie funktioniert Streiken im Krankenhaus? Habekost hat die Antworten.

Ohne Patienten auch keine Gefährdung

Einen Streik von dieser Grösse auf die Beine zu stellen bedarf unglaublicher Organisation. Die Vorarbeit war deshalb umso bedeutender: telefonische Vorgespräche, digitale Zusammenkünfte, Demonstrationen und eine eingereichte Mehrheitspetition als Stärketests. «Aufgrund der Pandemie mussten wir für den Aufbau und die Organisation oft auf digitale Wege ausweichen, was mit unseren Arbeitszeiten besser vereinbar war. Dadurch konnten wir mehr Kolleginnen und Kollegen erreichen», so die Anästhesiepflegerin.

Nachdem weder Politik noch Spitalleitung auf die 100tägige Frist einer eingereichten Petition reagiert hatten, war für die Berliner Belegschaft klar: Jetzt streiken wir! Dafür wurde eine Notdienstvereinbarung aufgesetzt. Diese regelte den Notdienst während des Streiks. Heisst: Der Betrieb wurde auf ein Minimum reduziert, Dienst für Notfälle gab es weiterhin. Denn die Pandemie hat exemplarisch aufgezeigt: Es gibt Eingriffe, Operationen und Untersuchungen, die nicht dringlich sind. Zu Hoch-Zeiten wurden ein Drittel der Betten «leergestreikt». Viele Operationen sind ausgefallen bzw. wurden verschoben. Parallel sorgten die mediale Sichtbarkeit und die intensiven Tarifverhandlungen für noch mehr Druck bei den Arbeitgebern. Habekost sagt:

Wir wollten nicht, dass über unsere Köpfe hinweg entschieden wird. Die Forderungen hatten wir gemeinsam erarbeitet und sassen mit der Gewerkschaft an der Seite am Verhandlungstisch.

Trotz Druck und Widerstand von der Spitalleitung kam es schliesslich zu einer Einigung. Und die Besserungen konnten sich sehen lassen!

Die Errungenschaft

Zentrales Anliegen war die Entlastung des Personals. Dafür wurde unter anderem ein Punktesystem eingeführt. Für jede unterbesetzte Schicht, für jeden Angriff auf eine Pflegekraft, für jeden spontanen Stationswechsel erhalten die Betroffenen einen Punkt. Bei fünf Punkten haben sie Anspruch auf einen freien Tag.

Während des Streiks wurden die Vorwürfe immer lauter, die Streikenden würden die Patienten im Stich lassen. Habekost widerspricht:

Nicht der Streik, sondern der Normalzustand gefährdet die Patientinnen.

Umso wichtiger ist es für sie, sich gewerkschaftlich zu organisieren und eine kollektive Verbesserung zu erkämpfen. «Ich erlebe es leider oft, dass Menschen aus der Pflege eine individuelle Lösung suchen oder sogar den Beruf verlassen, weil es einfach nicht besser wird. Unser Kampf zeigt, was alles erreichbar ist, wenn wir uns zusammen organisieren.»

Gefragte Expertise

Der Streik in Berlin zeigt exemplarisch, wie Streiken im Gesundheitswesen funktioniert und was man damit erreichen kann. Die Erfahrungen von Habekost sind wichtig auch für die Gewerkschaften hierzulande. So lud sie der VPOD, die Gewerkschaft für den Service public, vergangenen Dienstag zu einer Podiumsdiskussion nach Zürich ein. Zurzeit tüfteln Gewerkschaften, feministische Kollektive und viele weitere Menschen nämlich an einem grossen Care-Streik im Jahr 2027. Dieses Thema wird zudem am kommenden feministischen Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) genauer diskutiert.

Die Waadt zeigt, wie Streik geht

Es sind Kindertagesstätten, Schulen, Spitäler, Pflegeheime und Universitäten, die diesen Dienstag im Kanton Waadt stillstanden. Sogar die Kantonspolizei trägt an diesem Tag einen Badge mit der Aufschrift «Gendarmes en colère – die Polizei ist wütend». Auch die Tagesmütter ziehen nach und beklagen sich in einem offenen Brief über die schlechte Bezahlung für ihre wertvolle Arbeit. Der Grund für das hässige Waadtländer Staatspersonal: Die Regierung plant eine Sparmassnahme von 305 Millionen Franken zulasten des Gesundheits-, des Sozial- und des Bildungswesens. Die Folge dieser Sparübung wären Lohnkürzungen beim Staatspersonal.

Die Mobilisierung ist massiv, am späten Nachmittag versammeln sich mehr als 20'000 Menschen in Lausanne und bilden einen Demonstrationszug Richtung Place du Château, wo die Regierung sitzt. Die Forderungen sind klar: keine Sparübung auf dem Nacken des Staatspersonals! Zieht die Regierung innerhalb einer Woche nicht nach, kommt es nächste Woche zu mehrtägigen Streiks.

Pflegedemo: Es ist 5 nach 12

Vier Jahre nach dem deutlichen Ja zur Pflegeinitiative zeigt sich: Der Vorschlag des Bundesrates zur Umsetzung ist lückenhaft. So lässt sich die langsame Zerstörung der Gesundheitsversorgung nicht aufhalten, das Parlament muss nachbessern. Mit der Botschaft «Es ist 5 nach 12» ruft eine breite Allianz der Gesundheitsberufe zu einer gemeinsamen Kundgebung am 22. November in Bern auf. Damit auch die Politik merkt: So kann es nicht weitergehen! Alle Infos hier.

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