Johanna Kaufmann musste sich zwar alleine um die sieben Kinder kümmern. ­Dennoch: ihr Mann, Arbeiterführer Herman Greulich, war ein ­feministischer Pionier, der schon früh die «Befreiung des Weibes» forderte.

Beitrag vorlesen lassen.
0:00 / 7:56
POWER-PAAR: Herman Greulich und seine Frau ­Johanna. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

Herman Greulich (1842–1925) war arm, Arbeiter und Ausländer. Er war Poet und Politiker, Redaktor und Fotograf: Sein Bild der sozialistischen Prominenz in einer Gartenwirtschaft von 1893 in ­Zürich war das Postkarten-Sujet der Arbeiterbewegung. Er spielte Geige, «wenn auch nicht gerade meisterhaft». Er war Statistiker, der «tagelang an seinem Zählrahmen addieren und mit fast zärtlicher Sorgfalt seine kleinen, feinen Tabellen redigieren konnte, der Mann, der doch der geborene Volksredner war und eigentlich kein Sitzleder hatte». Er war sozialistischer Agitator, Gründer der ersten Sozialdemokratischen Partei in der Schweiz, Wegbereiter der Gewerkschaften. Und er war Feminist.

Feministische Pioniertaten

Wenn auch nicht ohne Widersprüche. Weil ihm ein 1.-Mai-Umzug gar zu klein scheint, sagt er: «Und das nächste Mal bringt ihr schöne Frauenzimmer, schöne Frauen! Ihre Schönheit wird unseren Gegnern (…) mehr imponieren als alle unsere Worte!» Wahrscheinlich imponiert ihm auch die Schönheit von Johanna Kaufmann, die er 1867 heiratet. Johanna ist gescheit und gebildet. Sie redigiert seine Texte, mobilisiert die Arbeiterinnen. Doch sie alleine kümmert sich um die sieben Kinder. Und darum, die Familie mit dem oft spärlichen Einkommen ihres Gatten über Wasser zu halten.

Trotzdem ist Greulich seiner Zeit voraus. Er fordert wahrlich Revolutionäres. Erstmals 1869 am Kongress der Internationalen Arbeiter-Assozia­tion (IAA), der Ersten Internationale: Frauen sollen arbeiten dürfen! Und für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten wie die Männer! Doch der Aufruf verhallt – die Lohngleichheit ist bis heute nicht umgesetzt.

Befreiung der Haussklavin

In einer Zeit, in der die Gleichberechtigung in der Arbeiterbewegung noch heftig umstritten ist, propagiert Greulich die «Befreiung des Weibes». Er schreibt:

Gewiss ist es merkwürdig, dass so viele Sozialisten daran nicht denken, ja von einer sozialistischen Wirtschaftsordnung träumen, in der die Frau, wie heute, Haussklavin bleibt.

Mitten im Ersten Weltkrieg reicht Greulich im Zürcher Kantonsrat eine Motion ein, die das Stimm- und Wahlrecht für Frauen fordert. Die Männer hätten kein Recht, sich als die «einzigen Vertreter der Gattung Mensch zu betrachten».

Im Dezember 1918 – kurz nach dem Landesstreik – reicht er im Nationalrat eine Motion für das Frauenstimmrecht ein. Sie wird 1919 immerhin als Postulat überwiesen – und verschwindet dann für Jahrzehnte in einer Schublade.

Im Arbeiter den Menschen achten

Greulichs gewerkschaftlicher Antrieb ist die Arbeitslosigkeit jener Zeit, die Hungerlöhne und die unmenschlich langen Arbeitstage der Arbeiterinnen und Arbeiter. Gewerkschaften sollen für eine Kranken- und Arbeitslosenversicherung sorgen, für Schutz der Gesundheit, für die «Verkürzung der Arbeitszeit und die Erhöhung des Arbeitslohns». Oder die «Umgestaltung der heutigen kapitalistischen Produktionsweise in die genossenschaftliche». Greulich ist überzeugt:

Nur die gewerkschaftliche Vereinigung kann den Arbeitern Schutz verleihen (…) nur sie ist im Stand, die Ausbeuter zu zwingen, im Arbeiter den Menschen zu achten.

Keine Streiks zum Selbstzweck

Politisch ist Greulich kein Revolutionär. Er fordert Reformen innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Er ist ein Verfechter der direkten Demokratie, engagiert sich für das Proporzwahlrecht. Als Politiker vertritt er eine pragmatische, konsensorientierte Linie und steht damit im Zwist mit den Parteilinken der Sozialdemokratie. Er ist gegen die Monarchien, aber auch gegen den Kommunismus. Die Anarchisten fürchtet er, ihren Vordenker Michail Bakunin bezeichnet er als «Elefantenmenschen mit den Augen und der Mähne eines Löwen». Er ist gegen die Taktik des Generalstreiks, denn ein Streik darf für ihn kein Druckmittel für politische Umstürze sein, sondern das «Mittel (soll) dem Zwecke entsprechen». Das führt zum Konflikt mit dem Landesstreikführer Robert Grimm. Hindert Greulich aber nicht daran, sich im Nationalrat «solidarisch» zu erklären mit dem, «was da geschehen ist».

Trotz massivem Widerstand gegen den «Sozia­listenhäuptling» wird er 1877 eingebürgert. Nach ihm, der perfekt Zürichdeutsch spricht, wird später im Zürcher Kreis 4 eine Strasse benannt.

Das Volk hat Hunger

Unermüdlich weibelt Greulich für die Arbeiterbewegung, in den hintersten Chrachen, auf internationalen Konferenzen, im Nationalrat. Nicht selten mit einer Prise Humor:

Meine Herren (Nationalräte), wenn Sie für einen Augenblick Ihre Privatunterhaltung unterbrechen und aufhorchen wollen – das Volk hat Hunger!

Kritik von links oder rechts schreckt Greulich nicht ab, gelegentlich macht er sich sogar über seine Gegner lustig. So schreibt er im Abstimmungskampf um das erste Schweizer Fabrikgesetz von 1877: ein Fabrikant habe allen Ernstes von «diesem Greulich» erzählt, «der stets in Frack, ­Zylinder und Glacés (Handschuhe) herumläuft», nichts tue und von Arbeiterrappen schwelge und Champagner saufe. Offenbar war die Mär der unrechtmässig reichen Gewerkschaften und Cüpli-Linken schon damals verbreitet.

Im November zeigt das Sozialarchiv in Zürich eine kleine Ausstellung mit Dokumenten zu Greulichs Leben und Wirken.

Herman Greulich: Buchbinder aus Breslau

1824: Geburt in Breslau (heutiges Polen), Vater Kutscher, Mutter Kindermädchen, Besuch der Armenschule
1856: Abschluss der ­Buch­binderlehre
1865: Ankunft in Zürich, Arbeit als Buchbinder und als Fotografengehilfe
1867–1870: Greulich gründet Gewerkschaften und eine erste sozialdemokratische Partei
1869 –1880: Redaktor ­«Tagwacht»
1873: Mitgründer des Schweizerischen Arbeiterbundes, aus dem später der Schweizerische Gewerkschaftsbund hervorgeht
1880–1884: Arbeit als Kaffeeröster im Konsumverein Zürich
1884–1887: Angesteller beim Statistischen Amt des Kantons Zürich
1887: Erster Sekretär des Schweizerischen Arbeiter­sekretariats
1897: Greulich veranstaltet eine internationale Arbeiterschutzkonferenz in Zürich; die Tagung gibt den Anstoss zur späteren Gründung der ILO
1905: Mitbegründer des Verbands der Ge­meinde- und Staatsarbeiter (heute VPOD) und bis 1915 dessen erster Präsident

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.