Anna Remund, Coiffeuse (41): Wohlfühlort schaffen

Föhne rauschen, Scheren klacken, Stimmen füllen den Raum – und mittendrin Anna Remund. Seit 16 Jahren schneidet die 41jährige im Berner Salon «Kopfstand» Haare. Sie hört zu, erzählt und entdeckt zunehmend die Kraft der Stille.

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Im Salon «Kopfstand» schneidet Anna Remund nicht nur Haare ab, sondern baut auch Vertrauen auf. (Foto: Franziska Scheidegger)

Der Arbeitstag beginnt bei Anna Remund mit einem Knarren. Das setzt ein, wenn die Bernerin die Tür zum Coiffeursalon «Kopfstand» öffnet. Dieser befindet sich am Ende der Länggasse in Bern in einem einstöckigen Gebäude, das sich der Salon mit einer Apotheke teilt. Die Bernerin hat das Knarren fast liebgewonnen. Ein bekanntes Geräusch, dass sie durch den Alltag begleitet. Wie die Musik auch.

«Den Laptop starten und die Playlist drücken – das ist etwas vom ersten, was ich am Morgen mache», sagt die 41jährige und nimmt einen Schluck Wasser. Sie sitzt in einem braunen Sessel am grossen Schaufenster, ebenerdig, herbstlich dekoriert, mit Blick auf eine Quartierstrasse. Draussen dunkelt es ein. Drinnen verabschieden sich die letzten Kundinnen.

Zwischen vier und acht Menschen bedient Anna Remund täglich. Junge und alte. Frauen, Männer und alles dazwischen. Sie färbt, sie frisiert, sie föhnt, sie schneidet. Daneben bildet sie Lernende aus, sie putzt und wäscht. Eine Lieblingsbeschäftigung hat sie nicht:

Mir macht die Vielfalt Spass! Das Gesamtpaket macht den Beruf aus.

Haare  als Statement

Anna Remund ist seit über 24 Jahren Coiffeuse. Seit 16 Jahren arbeitet sie im «Kopfstand». Ihre Kundinnen kommen, weil sie natürlich ihre Schnitte schätzen, aber auch ihre Art, ihren Humor und ihre ehrliche Meinung. «Ein Coiffeur- ist wie ein Arztbesuch: Das ist Vertrauenssache! Man muss sich wohl fühlen.»

Nach all den Berufsjahren hat sie gelernt, die Menschen zu lesen, abzuraten oder zu ermuntern, wenn sie spürt, dass der Wunsch nach Veränderung da ist. Mal etwas Neues auszuprobieren sei gut; wenn man nichts wage, bleibe man stehen. Sie selbst trug ihre Haare bereits in allen Längen und Formen. Als Teenager waren sie raspelkurz. Pink, blau oder grün eingefärbt – passend zum Umfeld. «Ich war ein politischer Freigeist, oft in der Berner Reitschule. Zwar nicht politisch aktiv, aber links sozialisiert», erinnert sie sich.

In ihren Zwanzigern folgten akkuratere Schnitte. Manga-artige, mit klaren Linien, auch mal blond gesträhnt. Heute trägt sie ihre Haare lang gewellt in der Naturfarbe. Mit dem Alter und den Kindern wurde nicht nur ihre politische Haltung gemässigter, sondern auch ihre Frisur. Remund:

Ich bin gelassener und ruhiger geworden. Aber soziale Themen beschäftigen mich immer noch.

Flache Hierarchien

So musste sie keine Sekunde überlegen, als sie vor einigen Jahren auf dem Bundesplatz angesprochen wurde, ob sie Unia-Mitglied werden wolle. «Gute Arbeitsbedingungen sind so wichtig, gerade in unserer Branche!» betont sie. Die Mutter zweier Kinder verdient 3300 Franken brutto im Monat. Bei einem Pensum von 65 Prozent. Zudem zahlt ihr Chef einen 13. Monatslohn. Eine Seltenheit. «Wir haben einen sehr sozialen, menschenfreundlichen Chef», erzählt Remund.

Dies ist mit ein Grund, warum sie ihm seit 16 Jahren die Treue hält. Ihr gefallen die flachen Hierarchien, die vielen Möglichkeiten, sich weiterzubilden, das gute und bunt durchmischte Team im «Kopfstand», der nebst dem Standort in der Länggasse noch zwei weitere in der Stadt Bern hat. In jedem Salon selbstverständlich: genderneutrale Preise. Männer zahlen den gleichen Preis wie Frauen. Ausschlaggebend für den Preis ist die Zeit, die verwendet wird. «Haar ist Haar!» betont Remund.

Als sie schwanger wurde und ihr erstes Kind bekam, reduzierte sie das Pensum. Heute führen ihr Mann und sie das «klassische Berner Stadtmodell»: Er arbeitet 80 Prozent, sie 65. Das funktioniert – solange alles nach Plan läuft und sie im Vorfeld Zeitfenster für Arztbesuche oder Geburtstage in ihrer Agenda blocken kann.

Unvorhergesehenes wie kranke Kinder, da wird es schwierig. Homeoffice? Natürlich Fehlanzeige! Dann heisst es: Tetris spielen. Kunden absagen, Termine verschieben, auf später vertrösten. Seit Corona fällt ihr dies leichter. «Es ist in der Gesellschaft anerkannter, krank zu sein», sagt Anna Remund.

Die Stille aushalten

Und wie hat sie’s mit den Plaudereien? Zuhören, erzählen, Wetter, Ferien, Krankheiten und böser Chef … «Immer auf Empfang zu sein zieht schon an der Energie», gibt Anna Remund zu. Deshalb hat sie es sich angewöhnt, die Stille auszuhalten, zu geniessen – und ein Gespür dafür zu entwickeln, was die Kundinnen wirklich wollen. Manche möchten erzählen, andere aber auch einfach abschalten, in einem Heft blättern, aufs Handy schauen.

Was indes ein Tabu ist, sind hitzige, politisch aufgeladene Diskussionen. Diese Regel hat das Team gemeinsam eingeführt. «Wir sind alle eher links, aber der Coiffeursalon ist nicht der Ort dafür», sagt sie und schaut hinaus auf die Quartierstrasse, die sie nach all den Jahren so gut kennt.
Sie mag das Bekannte. Vertraute. «Ich muss nicht immer nach den Sternen greifen. Es ist einfach gut, wie’s ist», sagt sie. Dann greift sie zur Jacke, verabschiedet sich freundlich und öffnet die Tür. Das leise Knarren begleitet Anna Remund in die Stille der Nacht.


Anna RemundVom Springen und Eintauchen

Aufgewachsen im ländlichen Murten, hat es Anna Remund früh in der Jugend nach Bern verschlagen. Die Pläne, das Gymnasium zu absolvieren, schlug sie kurzfristig in den Wind, um Masken­bildnerin zu werden. «Coiffeuse war eigentlich nur als Sprungbrett gedacht.»

Mafiaserie

Statt zu springen, blieb sie, wo sie war, und taucht heute nur in ihrer Freizeit ins kühle Nass. Egal wo: Aare, Meer, See – Anna Remund ist gern am und im Wasser und schaut ins Blaue.

Daneben macht sie Yoga, bäckt, kocht, liest und guckt Serien. Diese reichen von Comedy bis Krimis. Gerne auch solche, die sie schon kennt, das Bekannte hat etwas Beruhigendes für die 41jährige. Einer ihrer Lieblinge: Sopranos. Die Italo-amerikanische Mafiaserie aus den 90ern trifft ihren Geschmack, trotz Brutalität. «Die habe ich sicher schon drei Mal geguckt!»

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