Arbeiter und Wissenschafter hatten gewarnt, doch Profit und das Prestige waren wichtiger. Deshalb starben 88 Menschen am 30. August 1965, begraben unter Gletschereis und Geröll. 

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UNTER GLETSCHERMASSEN BEGRABEN: Die Baracken, die Werkstätten und die Kantine der Mattmark-Baustelle nach der grossen Tragödie. (Foto: Keystone)

Angelo Bressan war Baggerführer auf der Staudamm-Baustelle Mattmark. 40 Jahre nach dem Unglück berichtete Bressan im work: «Mein Freund Beppe und ich standen auf dem Vorplatz der Baracken und schmierten die Bagger. Es war am Samstag vor der Tragödie. Es war heiss, vom Gletscher über uns lösten sich mehrmals Eisblöcke, die krachend hinter der Barackensiedlung niedergingen. Beppe richtete sich auf und schaute den fallenden Eismassen nach: «Wenn der Gletscher kommt, sind wir alle tot», sagte er. Das waren genau seine Worte.»

Zwei Tage später, am 30. August 1965 um 17.20 Uhr kam er: Ein gewaltiges Stück des Allalingletschers stürzte in einer Lawine aus Eis und Geröll auf die Baracken, Werkstätten und die Kantine der Mattmark-Baustelle. 88 Menschen starben, 11 wurden verletzt. Bei den Todesopfern waren es 86 Männer und 2 Frauen – 56 Italiener, 23 Schweizer, 4 Spanier, 2 Deutsche, 2 Österreicher und ein Staatenloser. Das jüngste Opfer war 17jährig, das älteste 70 Jahre alt. Das Unglück hinterliess über 80 Waisen.

Warum, warum nur?

Tagelang suchten die Überlebenden nach den Opfern. Baggerführer Petro Vedana sagte 2005 zu work: «Elf Stunden pro Tag musste ich mit meinem Bagger die Eismassen abtransportieren. Vor mir lief ein Kollege, der ein Zeichen gab, wenn wir auf eine Leiche stiessen. (…) Einige Tage nach der Katastrophe wurde eine Alarmanlage installiert. Häufig löste man einen Probealarm aus, und wir mussten innerhalb von 45 Sekunden die Gefahrenzone verlassen. Ich frage mich noch heute, weshalb solche Sicherheitsmassnahmen erst nach der Katastrophe ergriffen wurden.» 

Heute ist klar: die Tragödie von Mattmark war keine unvorhersehbare Naturkatastrophe, sondern sehr wahrscheinlich fahrlässige Tötung. Das zeigt auch das neue Buch «Mattmark 1965» von Elisabeth Joris (siehe Interview unten). Tage vor der Katastrophe hatten sich immer wieder Eisblöcke gelöst. Arbeiter hatten die Abbrüche gemeldet – ohne Folgen. Schon vor Baubeginn hatten Expertenberichte klar gezeigt: der Allalingletscher war nicht erst im Jahr der Katastrophe gefährlich. Ein Glaziologe stellte klar: «Unter diesem Damoklesschwert darf man nicht bauen.» Doch das zuständige Unternehmen, die Zürcher Elektro-Watt AG, verzichtete auf Schutzmassnahmen. Und trotz Warnungen vor Gletscherabbrüchen wurden die Baracken direkt in die Falllinie des Gletschers gebaut. 

Fahrlässige Tötung

Politik und die meisten Medien sahen das ganz anders. Der Tenor: das Unglück habe niemand vorhersagen können. Mattmark wurde zum Symbol für die Kraft der unberechenbaren Berge. Im Herbst 1972 sprach das Kantonsgericht Wallis die siebzehn Angeklagten frei, darunter Elektrowatt-Ingenieure, Kantonsbeamte, Suva-Mitarbeitende und die Bauunternehmer. Es kam zu Protesten, insbesondere von italienischen Saisonniers. Dennoch legte sich eine jahrelange Eiszeit über den Prozess. Denn die Gerichtsakten kamen unter Verschluss und durften erst 50 Jahre später, im Jahr 2022, gesichtet werden.

Doch bereits 2015 kritisierten Soziologen der Uni Genf Arbeitsbedingungen der Saisonniers. Die Lage der Baracken direkt unter dem Gletscher sei die Folge von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen gewesen, so die Autoren. Vor allem habe die Elektro-Watt AG unter einem erheblichen Termindruck gestanden, sonst hätten Strafzahlungen gedroht. Und: es gab zwar Notfallpläne, nicht aber für den Bereich der Unterkünfte. Auch ein Expertenbericht von 1967, der dem Gericht vorlag, kam zum Schluss, dass es klare Hinweise auf die potentielle Gefahr eines Gletscherabbruchs gab. Nach der Sichtung der Gerichtsakten wurde klar: ein einziger Kantonsrichter war der Meinung, vier der Ingenieure seien der fahrlässigen Tötung schuldig zu sprechen. Doch er kam im Walliser Filz nicht durch.

Gedenkanlässe

Runder Tisch zum Thema Arbeitssicherheit, u. a. mit Unia-Gesundheitsexpertin Christine Michel: Freitag, 29.  August, 9 Uhr, im Zentrum Missione in Naters VS

Gedenkfeier «Mattmark 2025», u. a. mit Unia-Präsidentin Vania Alleva: Freitag, 29.  August, 18 Uhr, im Zentrum Missione in Naters

Gedenkfeier am Ort der Tragödie: 30.  August, 10 Uhr, am Mattmark-Staudamm 

Mattmark-Ausstellung: bis 27.  August in der Gewerbeschule Visp und ab dem 28.  August 
im Zentrum Missione in Naters


Die Geschichte eines kollektiven VersagensEine Katastrophe mit Ansage

Die Katastrophe von Mattmark ist einer der grössten Bauunfälle in der jüngeren Schweizer Geschichte. Historikerin Elisabeth Joris und der frühere Unia-Co-Präsident Vasco Pedrina sprechen über vergessene Frauen und Fehlurteile. 

WO DIE TRAGÖDIE PASSIERT IST: Die Baracken der Büezer standen direkt in der Falllinie des Allalingletschers. (Foto: Swisstopo)

von Claudio Carrer*

work: Frau Joris, 60 Jahre nach der Tragödie erscheint Ihr neues Buch über die Tragödie von Mattmark. Was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Elisabeth Joris: Als Historikerin habe ich mich schon immer für Grossprojekte interessiert, insbesondere für die Beteiligung der Frauen. 2020 führte ich eine Untersuchung im Saastal durch, um Frauen im Zusammenhang mit dem Bau des Mattmark-Staudamms und der Katastrophe sichtbar zu machen. Dann, 2022, wurden die Akten des 1972 abgeschlossenen Prozesses freigegeben, bei dem alle Verantwortlichen freigesprochen worden waren. Diese Akten bestätigen die einseitige Sichtweise der Richter. Als ich mit Vasco Pedrina über den gewerkschaftlichen Wandel diskutierte, zu dem die Tragödie von Mattmark beigetragen hat, entschieden wir uns für eine Publikation. Und so entstand «Mattmark 1965».

Welche Rolle spielten die Frauen auf der Grossbaustelle Mattmark?
Auf der Baustelle des Mattmark-Staudamms arbeiteten über 1500 Büezer, die meisten von ihnen Saisonniers. Sie mussten essen, trinken, schlafen oder ihre Kleidung waschen. Für diese Dienstleistungen sorgten die Frauen. In den Kantinen arbeiteten überwiegend Italienerinnen. Sie stammten teilweise aus derselben Region wie die Arbeiter. Es ist kein Zufall, dass unter den 88 Opfern auch zwei Frauen sind: eine Schweizer Köchin und eine Kantinenmitarbeiterin aus Italien. Auch ausserhalb der Baustelle spielten Frauen eine zentrale Rolle: Sie vermieteten Zimmer an Arbeiter, arbeiteten in Hotels, die fast ausschliesslich Arbeiter beherbergten, oder führten im Auftrag des Unternehmens eine Pension, in der die Ingenieure untergebracht waren. Wieder andere wuschen die Kleidung der Arbeiter. Dann gab es noch die Frauen, die in der Verwaltung des Unternehmens arbeiteten oder in der Sanitätsstelle. Nicht zuletzt gab es auch Frauen, die die landwirtschaftliche Arbeit übernahmen, sowohl in Saas-Almagell als auch in der Region Belluno im Nordostens Italiens, aus der ein Grossteil der Saisonarbeiter stammte und wo die Geschäfte weitergeführt und die Kindererziehung gewährleistet werden mussten. 

ELISABETH JORIS: Die Historikerin hat zu Mattmark geforscht. (Foto: zvg)

Das Buch befasst sich auch mit den Unterschieden in der Erinnerungskultur in der Schweiz und in Italien. Worin bestehen diese Unterschiede?
Der Unterschied ist beeindruckend. In der gesamten Region Belluno ist die Tragödie von Mattmark sehr präsent, durch Parks, Gedenktafeln und Denkmäler. Tatsächlich herrscht nach wie vor ein weitverbreitetes Gefühl der Ungerechtigkeit. Vor allem wegen des Ausgangs des Prozesses, in dem alle Verantwortlichen freigesprochen wurden. Und in dem kein Überlebender jemals als Zeuge aussagen musste, obwohl es viel zu erzählen gab. Alle wussten zum Beispiel, dass keine Sicherheitsmassnahmen eingeführt wurden, obwohl sich in den Tagen vor dem 30. August bereits Teile des Gletschers gelöst hatten. Das hat später ein Expertenbericht bestätigt. Empörung erregt aber auch die Tatsache, dass die italienischen Opfer (die mit 56 von 88 die grosse Mehrheit stellten) nie als solche wahrgenommen wurden: In den Zeitungsberichten von 1965 war von den Angehörigen die Rede, die zum Ort der Tragödie eilten, aber nicht von den Toten.

Und in der Schweiz?
In der Schweiz sind Staudämme zwar Teil der Geschichte, aber einer heroischen Geschichte. So wie der Ingenieur, der den Gotthard-Eisenbahntunnel entworfen hat, in Erinnerung bleibt und nicht diejenigen, die beim Bau ums Leben gekommen sind. Mattmark sollte der grösste Erdstaudamm Europas werden. Bei seiner Eröffnung 1969 überwog das Gefühl des Stolzes. Die Gedenksteine und feiern sind vorwiegend Initiativen der «Associazione Bellunesi nel mondo» und der «Association Italia Valais». 

Kann man sagen, dass in der Schweiz eine Kultur der Verdrängung der Erinnerung an die Tragödie vorherrscht?
Zum Teil vielleicht, ja. Die Tragödie wird zu einem nebensächlichen Element. Ein ähnliches Szenario lässt sich auch bei den Unglücksfällen im Zusammenhang mit dem Bau von Tunneln beobachten: Gefeiert werden der technologische Fortschritt und die Grossartigkeit der Bauwerke, nicht die Opfer. Das liegt auch daran, dass die meisten von ihnen keine Schweizer waren. So vergisst die Schweiz, dass sie ein Einwanderungsland ist und vor allem Migranten die moderne Schweiz gebaut haben. 

Gleich am Tag nach der Tragödie wollte die Elektrowatt AG die Arbeit wiederaufnehmen. War das ein Zeichen dieser Verdrängung?
Es war ein grauenhafter Versuch. Man wollte die Tragödie sofort dem Schicksal zuschreiben, sie als unvorhersehbares Ereignis betrachten. Und damit jegliche Verantwortung von irgendjemandem ausschliessen.

Eine These, die dann vor Gericht bestätigt wurde …
Ein Expertenbericht zeigte eine ganze Reihe von Widersprüchen und Hintergründen auf, wie zum Beispiel der Abbruch des Allalingletschers im Jahr 1949, 100 Meter von der Baustelle der Tragödie entfernt. Doch die Richter griffen nur Aspekte heraus, die die Angeklagten entlasteten, und kamen zum Schluss, dass der Unfall nicht vorhersehbar gewesen sei. Alle gegenteiligen Argumente berücksichtigten sie nicht. Das ist eine Folge der starken Verbindungen zwischen Justiz und Politik im Oberwallis: Gegen das Urteil der ersten Instanz vom Februar 1972 legten nur Angehörige italienischer Opfer Berufung ein. Das Mandat übernahm kein Walliser, sondern ein der Arbeiterpartei nahestehender Basler Anwalt. Im Berufungsprozess im Herbst desselben Jahres kam der für die Vorbereitung zuständige Kantonsrichter nach monatelanger genauer Prüfung der Akten zum Schluss, dass vier Ingenieure strafrechtlich verantwortlich waren. Aber die Mehrheit seiner Kollegen im fünfköpfigen Kantonsgericht sprachen entgegen seinem Antrag alle Angeklagten frei von jeglicher Schuld und verlangten darüber hinaus von den mehrheitlich weiblichen Angehörigen der Opfer die Zahlung der Hälfte der Prozesskosten.

Vasco Pedrina, dieses Urteil hat bei den Gewerkschaften einen Wandel in Bezug auf Arbeitssicherheit und die Migrationspolitik angestossen. 
Vasco Pedrina: Der Schweizer Bau- und Holzarbeiterverband (SBHV) hatte bereits zuvor eine gewisse Sensibilität für die Migrationsfrage entwickelt. Dies im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften, die Migrantinnen und Migranten als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt betrachteten. Dank Ezio Canonica (Canonica stammte aus dem Tessin, war Journalist, SP-Politiker und Gewerkschafter, Anm. d. R.) war der SBHV in den 1960er Jahren der erste, der erkannte, dass eine Gewerkschaft solidarisch sein musste. Gleich nach der Tragödie setzte sich Canonica für die Interessen der Opfer und ihrer Familien ein. Denn das ist die Aufgabe einer Gewerkschaft. Canonica befasste sich von Anfang an mit der Sicherheit am Arbeitsplatz und noch mehr nach den Prozessen von 1972: im Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), im eidgenössischen Parlament und bei der Unfallversicherung Suva. Nach dem skandalösen Gerichtsurteil bezogen sowohl der SGB wie auch Canonica klar Stellung und brachten ihre Empörung zum Ausdruck. Dies führte zu einer weiteren Verstärkung des Engagements für Fragen der Arbeitssicherheit und Kontrollen.

Und hat das zu greifbaren Ergebnissen geführt?
Etwa zehn Jahre später war ich selbst aktiv an den Reformprozessen der Gesetze zur Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz beteiligt und konnte feststellen, dass die Katastrophe von Mattmark – dank dem Druck der Gewerkschaften – ein Wendepunkt für die Entwicklung des Kontrollsystems auf Baustellen und in Unternehmen war.

VASCO PEDRINA: Früherer Co-Präsident der Unia. (Foto: Severin Nowacki)

Die Tragödie brachte auch einen Wandel in der Migrationspolitik der Gewerkschaften.
Die Fortschritte im Bereich der Arbeitssicherheit waren sicherlich schneller als diejenigen in der Migrationspolitik. Mattmark war für die Gewerkschaften nur ein erster Weckruf. Der zweite kam fünf Jahre später mit der Abstimmung über die fremdenfeindliche Volksinitiative von James Schwarzenbach (Begrenzung des Ausländeranteils auf 10 Prozent der Bevölkerung, Anm. d. Red.). Für den Wandel in den Gewerkschaften von einer Politik der Unterstützung des menschenverachtenden Saisonnierstatuts hin zu einer Politik, die auf Gleichberechtigung basiert, benötigte es mehr als 20 Jahre. Und die Schweizer Politik brauchte weitere 15 Jahre, um denselben Schritt zu vollziehen (durch die Abschaffung des Saisonnierstatuts 2002, dank den bilateralen Verträgen I CH-EU. Anm. d. Red.)

Was wäre ohne diesen Wendepunkt in der Migrationspolitik aus den Gewerkschaften in der Schweiz geworden?
Ihre Krise wäre extrem schwerwiegend geworden, denn die Integration von Migrantinnen und Migranten ermöglichte es, die Stärke der Gewerkschaften in traditionellen Branchen wie dem Bauwesen und der Industrie mehr oder weniger aufrechtzuerhalten, die durch den strukturellen Wandel auf dem Arbeitsmarkt an Boden verloren hatten. Und später ermöglichte dieser Wandel den Gewerkschaften, ihre Verankerung im Dienstleistungssektor auszubauen, zumindest in Branchen wie dem Hotel- und Gastrogewerbe, dem Verkauf und der Pflege.

Warum war Mattmark der Beginn einer Veränderung der Gewerkschaftspolitik im allgemeinen?
Das lässt sich aus der Karriere von Ezio Canonica ableiten. Mit Mattmark stieg er zu einer Persönlichkeit von nationaler Bedeutung auf und wurde 1968 der erste Tessiner Präsident einer nationalen Gewerkschaft. Dann, im Jahr 1970, profilierte er sich im Abstimmungskampf zur zweiten Überfremdungsinitiative als Hauptgegner von Schwarzenbach. Auch weil er aufgrund seiner Geschichte glaubwürdig war. Im Gegensatz zum damaligen SGB-Präsidenten Ernst Wüthrich, der drei Jahre zuvor noch ähnliche Positionen wie Schwarzenbach vertreten hatte. So konnte Canonica 1971 Nationalrat für den Kanton Zürich werden, zwei Jahre später SGB-Präsident. Er trug dazu bei, eine Dynamik des Wandels nicht nur in der Migrationspolitik der Gewerkschaften zu schaffen. Auch dank dem Einfluss, den die Migrantinnen und Migranten später hatten, war er der erste nationale Spitzenpolitiker, der eine Relativierung des Arbeitsfriedens forderte und so die Tür für eine kämpferischere Gewerkschaftspolitik öffnete.

* Claudio Carrer ist Chefredaktor der italienischsprachigen Unia-Zeitung «Area». work publiziert das Interview in einer gekürzten Fassung.

Mattmark neu erzählt

Wer waren die Frauen auf der Baustelle? Wieso wurde niemand verurteilt, und was bedeutete das Unglück für Gewerkschaften? Spannende Antworten auf diese Fragen liefert dieses neue Buch. 

Elisabeth Joris: Mattmark 1965. Erinnerungen, Gerichtsurteile, italienisch-schweizerische Verflechtungen. Rotpunktverlag, 208 Seiten, Fr. 32.–.

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