Druck der deutschen Gewerkschaften wirkt:
Massiv mehr Mindestlohn für Millionen

In Deutschland steigt der Mindestlohn bis in 77 Wochen stufenweise auf 14,60 Euro. Aktuell liegt er bei 12,82 Euro. Davon profitieren rund 6 Millionen Lohnabhängige direkt. Und das hat auch mit einer von der Unia vor 20 Jahren mitorganisierten Tagung in Zürich zu tun.

Beitrag vorlesen lassen.
0:00 / 8:54
MASSEN OHNE MINDESTLOHN. Deutschland-Fans 2006 an einem WM-Spiel in München. Der Mindestlohn wurde erst 2015 später eingeführt. Foto: Devin Farley.

Am 27. Juni gab die deutsche Mindestlohn-Kommission ihren Entscheid bekannt: ab 1. Januar 2026 liegt der gesetzliche Mindestlohn 13,90 Euro pro Stunde, ab dem 1. Januar 2027 bei 14,60 Euro. Er gilt – mit wenigen Ausnahmen – für alle Lohnabhängigen in Deutschland. Die Gewerkschaften hatten 15 Euro gefordert. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) hält 15,12 Euro für einen «armutsfesten Lohn».

Die Mindestlohn-Kommission setzt alle zwei Jahre die Höhe fest. Stimmberechtigt sind 7 Mitglieder, davon sind je drei von den Gewerkschaften und drei von den Arbeitgeber-Verbänden. Mit beratender Stimme sitzen auch Wissenschafterinnen und Wissenschafter mit am Tisch. Vorsitzende des Gremiums ist seit 2019 Christiane Schönefeld. 2023 hat sie sich mit einem Stichentscheid auf die Seite der Arbeitgeber geschlagen. In der aktuellen Runde hat sie sich wieder an ihre eigentliche Aufgabe gehalten, die Verhandlungen moderiert und Kompromisse gesucht.

Erfolg für Gewerkschaften

Andrea Kocsis ist stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi und Mitglied der Mindestlohn-Kommission. Sie sagt: «Auch wenn es nicht 15 Euro geworden sind, ist es doch eine erhebliche finanzielle Verbesserung für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor.» Die Verhandlungen in der Kommission seien extrem hart und schwierig gewesen. Von der Erhöhung des Mindestlohns werden rund 6 Millionen Lohnabhängige in Deutschland direkt profitieren.

Konkret: Vollzeitbeschäftigte mit Mindestlohn erhalten bei einer 40-Stunden-Woche ab nächstem Januar rund 190 Euro mehr Lohn. Ab Januar 2027 sind es dann im Vergleich zum aktuellen Mindestlohn rund 310 Euro im Monat. Daraus ergibt sich ein Mindestlohn in der Nähe von 60 Prozent des aktuellen deutschen Median-Lohns – entspricht ungefähr dem Referenzwert der EU-Mindestlohnrichtlinie. Rainer Jung, Mindestlohnexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung sagt dazu: «Das ist ein Erfolg für die Gewerkschaften, die den Referenzwert als neues Kriterium durchgesetzt haben. Das wird auch bei kommenden Beschlüssen eine Rolle spielen.»

Merkel flickt Schröder

Deutschland kennt seit 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn. Eingeführt wurde dieser unter der bürgerlichen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie korrigierte damit auf Druck der Gewerkschaften die Folgen der «Agenda 2010». Dieses neoliberale Projekt der sozialdemokratisch-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) war für Millionen Arbeitende in Deutschland eine Katastrophe. Die Gewerkschaften warnten früh, dass der angebliche «Fördern und Fordern»-Ansatz in Wahrheit vor allem Druck auf Arbeitslose ausübte, jede Arbeit zu jedem Lohn anzunehmen – ein Steilpass für Lohndumping und Leiharbeit. Und es kam, wie es kommen musste und vom «Genossen der Bosse» Schröder gewollt war: Der Niedriglohnsektor explodierte, prekäre Jobs nahmen massiv zu, und Millionen Menschen arbeiteten zu Löhnen, von denen man nicht leben konnte. Schröder liess sich dafür im Januar 2005 am WEF in Davos feiern und plagierte: «Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.»

Gerhard «Genosse der Bosse» Schröder schwärmt am WEF über seinen Niedriglohnsektor.

Im September des gleichen Jahres wurde er verdientermassen abgewählt. Die SPD verlor 29 Sitze im Bundestag und die neu formatierte «Die Linke», die auch als Reaktion auf Schröders Agenda entstanden war, legte um 52 zu.

Der deutsche Mindestlohn…

Der von der Regierung Merkel gegen erbitterten Widerstand der Arbeitgeber und Teilen der eigenen Partei auf den 1. Januar 2015 eingeführte Mindestlohn betrug 8,50 Euro. Vom Mindestlohn sind auf Druck der Arbeitgeber-Verbände Pflichtpraktikanten, Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Auszubildende und Langzeitarbeitslose vom Mindestlohn ausgeschlossen. Seither stieg der Mindestlohn real um 16 Prozent gegenüber dem Einführungsniveau aus dem Jahr 2015. Dazu haben die Anpassungen durch die Mindestlohnkommission kaum beigetragen, sondern lediglich mehr oder weniger die Teuerung ausgeglichen. Die reale Erhöhung kam von der Politik. Auf den 1. Oktober 2022 hin hatte der Bundestag den Mindestlohn von damals 10.45 Euro auf 12 Euro erhöht. Und damit kurzzeitig in die Nähe von 60 Prozent des Medianlohns gebracht. Diese 60 Prozent gelten in Wissenschaft und Praxis als «armutsfest». Darum stehen sie auch in der EU-Mindestlohnrichtlinie. Diese wurde im Herbst von den meisten Mitgliedstaaten angenommen, aktuell aber ist ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof hängig, weil Dänemark und Schweden dagegen geklagt haben.

… und die Zürcher Tagung

Dieses «Mindestlohn mindestens 60 Prozent vom Medianlohn» hat eine lange Geschichte. Die Schweizer Gewerkschaften führen seit 1998 eine Mindestlohn-Kampagne. Diese stiess nach der Jahrtausendwende auch bei deutschen Gewerkschaften auf Interesse.

Im April 2005 fand in Zürich die Tagung «Mindestlöhne in Europa» statt. Die Initiative dazu ging von der Unia, der Denkfabrik Denknetz und dem WSI der deutschen Böckler-Stiftung aus. Teilgenommen haben Gewerkschafterinnen und Wissenschafter aus verschiedenen Ländern, darunter Frank Bsirske und Wolfgang Piper von Verdi, Paul Rechsteiner vom SGB, Marie France Boutroue von der CGT und Walter Cerfeda vom Europäischen Gewerkschaftsbund.

An der Tagung wurden die «Thesen für eine europäische Mindestlohnpolitik» lanciert, die der spätere Unia-Co-Präsident Andreas Rieger und WSI-Wissenschafter Thorsten Schulten ausgearbeitet hatten. Diese forderten einen Mindestlohn von anfänglich mindestens 50 Prozent des Durchschnittseinkommens. Diese 50 Prozent entsprachen 2005 für die reicheren europäischen Ländern ungefähr 60 Prozent des Median-Einkommens, die sich unterdessen als Referenzwert durchgesetzt haben. Die Thesen fanden Zustimmung und wurden gemeinsam von Vertreterinnen und Vertretern aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich veröffentlicht.

Die Zürcher Tagung erwies sich als wichtiger Kristallisationspunkt für die gewerkschaftliche Diskussion über Mindestlöhne auf europäischer Ebene. Und sie legte den Grundstein für einen kontinuierlichen Austausch zwischen der Unia, Verdi und dem WSI in den folgenden Jahren.

Die Unia-Kampagne für Löhne zum Leben ist auch Thema eines Kapitels im Jubiläumsbuch «20 Jahre stark. Unia von A bis Z.» 

Das üppig illustrierte, 300seitige Buch gibt spannende Einblicke in die jüngere Geschichte der Arbeitskämpfe in der Schweiz und lässt zahlreiche Unia-Kolleginnen und Kollegen zu Wort kommen. Es liegt in drei (regional unterschiedlichen) Sprachversionen vor und kann hier bestellt werden. Die Unia verrechnet nur die Versandkosten.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.