Kampf seit 25 Jahren: Neue Studie zur Mindestlohnkampagne der Schweizer Gewerkschaften

Wie unsere Löhne politisch wurden. Und es bleiben.

Clemens Studer

Wer 100 Prozent ­arbeitet, soll vom Lohn leben können. Seit 25 Jahren führen die Gewerkschaften eine Mindestlohn­kampagne. Eine neue Studie zieht Zwischen­bilanz und zeigt die Handlungsfelder der Zukunft.

Anto Blazanovic war im Juli 1996 in der Schweiz eine Berühmtheit. Er hatte allerdings nicht ein entscheidendes Tor geschossen, einen Sommerhit gesungen oder eine neue Krebstherapie entwickelt. Anto Blazanovic war Kellner im damaligen Berner Re­staurant Sternenberg, ganz in der Nähe des Bundeshauses und auch bei Bundesräten beliebt. Blazanovic war ein guter Kellner. Er verdiente rund 4500 Franken im Monat, 13 Mal im Jahr. Die Arbeitsbedingungen waren in einem Gesamtarbeitsvertrag mit dem Hotelierverein und Gastrosuisse geregelt.

Während der Rezessionsjahre Anfang der 1990er Jahre witterten die Wirte ihre Chance und wollten die Gewerkschaften aus ihren Betrieben haben. Ihr «Argument»: Die Chefs schauen schon selber gut zu den Mitarbeitenden, die Gewerkschaften mit ihren Gesamtarbeitsverträgen machten alles «nur kompliziert und unflexibel». Ab Ende Juni 1996 herrschte ein vertragsloser Zustand. Und die Folgen für die Lohnabhängigen waren verheerend.

Fakt 1

Mindestlöhne führen nicht zu mehr Arbeitslosigkeit.

Wenig überraschend – und entgegen den schönen Worten der Verbandsfunktionäre – verschlechterten Hunderte von Wirten die Arbeitsbedingungen ab dem ersten Tag des vertragslosen Zustandes und drängten ihre Mitarbeitenden mit Änderungskündigungen zu massiv schlechteren Verträgen.

Darüber berichtete der «Sonntagsblick» mit Blazanovic als Beispiel. In seinem Fall sah der neue Vertrag so aus: 13. Monatslohn weg, 50- statt 42-Stunden-Woche, eine Woche Ferien weniger und sechs ­Feiertage nicht mehr bezahlt. Und: statt 4500 Franken Lohn gerade noch eine ­Garantie von 3200 Franken. Der Titel dazu im «Sonntagsblick»: «Das grenzt an Sklaverei».

ANSAGE DES STIMMVOLKS: Zürich und Winterthur haben heuer den Mindestlohn mit rund 70 Prozent bzw. über 65 Prozent deutlich angenommen.

LÖHNE AM STAMMTISCH

Blazanovic und die Löhne des Servier-, Küchen- und Hotelpersonals wurden im wahrsten Sinne des Wortes zum Stammtischthema. Die «kleine unia» (siehe hier) führte eine angriffige Kampagne. In Bern verteilte sie eine schwarze Liste mit Betrieben, die das GAV-Aus für Änderungskündigungen nutzten – und eine weisse mit jenen Betrieben, die sich weiterhin an die GAV-Standards hielten. Die Flugblätter wurden in fünf Sprachen gedruckt. Darunter in Englisch und Japanisch, um auch die Touristinnen und Touristen zu ermuntern: «Meiden Sie Betriebe, welche die Arbeitsbedingungen verschlechtert haben.»

Der öffentliche Druck zeigte Wirkung. 1997 kamen die Chefs nicht mehr um Verhandlungen herum. 1998 kam es zu einer Einigung. Der Landes-GAV trat wieder in Kraft. Das war ein Fortschritt für die Gastro-Lohnabhängigen, doch blieben die Mindestlöhne beschämend tief. Dar-um führte die unia ihre Lohnkampagne gleich weiter. Motto: «Löhne ­unter 3000 Franken. Dem Gast vergeht der Appetit.»

Die öffentliche Meinung war klar: Das geht nicht! Doch der Wirteverband Gastrosuisse blieb stur.

LÖHNE IM GAV

Für Ungelernte lag der Mindestlohn im Gastro-GAV ab dem 1. Oktober 1998 bei 2350 Franken. Die unia musste am Anfang ihrer Mindestlohnkampagne feststellen, dass rund die Hälfte der Beschäftigten in der Branche weniger als 3000 Franken verdienten für einen 100-Prozent-Job. Das reichte schon damals nicht zum Leben. Im Mai 2000 machte die Gewerkschaft den Fall eines Buffetangestellten publik, der zum GAV-Mindestlohn von 2350 Franken angestellt war. Der Mann war verheiratet und Vater eines Kindes. Mit Kinderzulage erhielt er netto 2123 Franken ausgezahlt. Der Grundbedarf betrug im Jahr 2000 3346 Franken. Die Familie erhielt deshalb vom Sozialamt monatlich 1000 Franken. Die öffentliche Meinung war klar: Das geht nicht! Doch der Wirteverband Gastrosuisse blieb ein weiteres Mal stur. Es dauerte noch 13 Monate und unzählige öffentlichkeitswirksame Aktionen der Gewerkschaften, bis es im Juni zu einer Einigung kam, die einen massiven Fortschritt brachte. Die Mindestlöhne für Ungelernte stiegen um fast 20 Prozent an die Schwelle der von den ­Gewerkschaften geforderten 3000 Franken. Und auch die Löhne der gelernten Arbeitenden stiegen, wenn auch weniger stark (siehe Grafik). Die eben veröffentlichte Untersuchung «25 Jahre Mindestlohn-Kampagne der Schweizer Gewerkschaften» (siehe Box) schreibt zu diesem Durchbruch: «Dieser Fortschritt, welcher Zehntausenden Ungelernten im Gastgewerbe ein substantielles Plus brachte, dürfte einer der grössten Lohnfortschritte in der GAV-Geschichte gewesen sein. Damit befreite sich das Gastgewerbe für einige Jahre vom Image einer Branche mit Hungerlöhnen.»

Die unia hatte mit ihrem konsequenten und kreativen Kampf für Mindestlöhne mehrere Tausend Mitglieder gewonnen. Trotzdem wollte Gastrosuisse sie genauso wenig wie den VHTL und die Syna in den GAV aufnehmen. Der Bundesrat rief die Wirte im Dezember 2001 zur Ordnung. Und seit 2003 sind die unia und die Syna zusammen mit der Hotel ­& Gastro Union Vertragspartner im ­Gastro-GAV.

MINDESTLOHN-KONJUKTUR

Das Beispiel des Gastgewerbes steht exemplarisch für die Mindestlohnkampagne der Schweizer Gewerkschaften ab den 1990er Jahren. Zuvor waren Löhne kein öffentliches Thema. Nicht einmal für die Gewerkschaften. Sie verhandelten in einzelnen Betrieben und Branchen, sofern überhaupt GAV mit Mindestlöhnen bestanden. In vielen Tieflohnbranchen gab es allerdings gar keine GAV. Und teilweise hatten die Gewerkschaften in den Jahrzehnten davor die Fähigkeit und den Willen verloren, Arbeitskämpfe zu führen. Das war früher anders. Ebenso wie das gewerkschaftliche Verhältnis zu staatlichen Mindestlöhnen. In den Jahren nach dem Landesstreik 1918 verlangten die Gewerkschaften paritätisch zusammengesetzte Lohnämter, die für einzelne Branchen Mindestlöhne hätten erlassen können. Später legten die Gewerkschaften Wert darauf, Löhne über GAV ohne Einmischung des Staates festzusetzen.

LOHNPOLITISCHE WENDE

Im November 1998 tagten die Delegierten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Die unia hatte einen Antrag ausgearbeitet mit dem sprechenden Titel «Für eine Politisierung der Löhne». Er setzte die lohnpolitische Wende der Gewerkschaften auf die Traktandenliste. Unia-Co-Präsident Andreas Rieger brachte es damals so auf den Punkt: «Wir haben eine Sozialpolitik, wir haben eine Preispolitik, wir haben sogar eine Milchpolitik. Aber es gibt in der Schweiz keine Lohnpolitik.» Das sollte sich ändern. Rieger: «Wir müssen die untersten Löhne zum politischen, öffentlichen Thema machen.» Das gelang den Gewerkschaften in den folgenden Jahren. Paul Rechsteiner, frisch gewählter SGB-Präsident, stellte Löhne und Arbeitszeitverkürzung ins Zentrum seiner Tätigkeit: «Das sind nicht nur gewerkschaftliche, sondern auch wichtige gesellschaftliche Fragen.»

Fakt 2

Mindestlöhne führen nicht zu niedrigeren mittleren Löhnen.

ERSCHRECKENDE ZAHLEN

«Kein Lohn unter 3000 Franken» war die Forderung der ersten Mindestlohnkampagne ab 1999 bis 2004. An ihrem Anfang stand eine Bestandesaufnahme der GAV-Mindestlöhne. Fast alle Verbände legten ihre GAV mit Tieflöhnen offen. Und die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter erschraken. 3000 Franken pro Monat entsprachen rund 66 Prozent des damaligen Medianlohns (siehe Seite 6). Doch in GAV wurden Mindestlöhne festgestellt, die bei der Hälfte oder sogar darunterlagen. So etwa im Detailhandel, in der Reinigung, in der Pflege, im Coiffeurgewerbe, bei den Chauffeuren. Mehrheitlich galten die tiefsten GAV-Mindestlöhne – wenig überraschend – für Tätigkeiten, die vor ­allem Frauen ausführten. Im Gastgewerbe allerdings galten die Tieflöhne für beide Geschlechter, und in den Metzgereien und in den LKW-Kabinen waren fast ausschliesslich Männer tätig. Und das lohnstatistische­ ­Fazit aus der damals neuen Schwei­zerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) des Bundesamtes für Statistik war ebenso erschreckend: Hunderttausende Lohnabhängige erhielten weniger als 3000 Franken pro Monat netto (kein Dreizehnter).

Fakt 3

Gesetzliche Mindestlöhne sind rechtens. Sagt das Bundesgericht.

ERKÄMPFTE ERFOLGE

Besonders viele schlechtbezahlte Beschäftigte arbeiteten im Detailhandel und im Gastgewerbe. Die Kampagne beschränkte sich aber nicht auf diese. Die SGB-­Gewerkschaften konnten auch in der grafischen, der Nahrungsmittel-, der Uhren- und der Textilin­dustrie höhere Mindestlöhne erkämpfen und so den Schweizer Tieflohnsektor verkleinern. Statistisch ist nachweisbar, dass in jenen Branchen, in denen die Gewerkschaften Kampagnen geführt haben, der Anteil der Tieflohnbeschäftigten stark sank. In den übrigen Branchen der Privatwirtschaft stagniert er. Besonders betroffen von Tiefst- und Tieflöhnen sind Frauen. Hier zeigt sich die Wirksamkeit der gewerkschaftlichen Kampagnen denn auch besonders deutlich. Der Anteil der Frauen in der Privatwirtschaft, die weniger als 60 Prozent des mittleren Lohns verdienten, sank zwischen 1998 und 2004 von 11,3 auf 9,1 Prozent. Armutslöhne, die weniger als die Hälfte des mittleren Lohns betragen, gingen noch stärker zurück.

KAMPAGNE: Mit einem riesigen Ballon warb die Unia für ein Ja zum nationalen Mindestlohn. Die Abstimmung ging verloren, doch der Kampf zeigte Wirkung. (Foto: Unia)

ERFOLGREICHE NIEDDERLAGE

2011 lancierten die Unia und der SGB die nationale Mindestlohninitia­tive. Die Unterschriften kamen rasch zusammen. Bundesrat und rechte Parlamentsmehrheit lehnten die Initiative ab. Ebenso das Stimmvolk im Mai 2014. Vorausgegangen war ein Abstimmungskampf, bei dem die Arbeitgeberverbände und mehr oder weniger marktradikale Ökonomen alles an «Argumenten» gegen einen Mindestlohn anführten, was sie bis heute wiederholen (siehe auch hier). Unbesehen davon, dass ihre Behauptungen längst von der Wirklichkeit wie von der Wissenschaft widerlegt sind. Auch das zeigt die Untersuchung von Gallusser und Rieger eindrücklich auf. Trotz dem schlechten Resultat der Volksabstimmung mit nur 23,7 Prozent Ja-Anteil war die Initiative und vor allem die rundherum geführte Kampagne ein Erfolg. Denn Löhne unter 4000 Franken galten und gelten bei der grossen Mehrheit der Menschen jetzt definitiv als zu tief. Und die Löhne sind definitiv «politisiert», wie es der SGB-Kongress 1998 als Ziel setzte.

NEUE ZIELE

Trotz vielen Erfolgen der Gewerkschaften sind tiefe und tiefste Löhne in der Schweiz immer noch ein drängendes Problem. Sechs Prozent aller Lohnabhängigen verdienen immer noch weniger als 4000 Franken im Monat für einen Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es gar neun Prozent. Und es sind längst nicht nur serbelnde Kleinbetriebe, die solche gschämigen Löhne bezahlen, sondern zum Beispiel auch ­Luxushotel-Ketten und Mode-Konzerne, die ihre Besitzenden zu Multimillionären machen.

Die Gewerkschaften haben dieses Jahr ihre Zielsetzungen für die kommenden Jahre aktualisiert: keine Löhne unter 4500 Franken und mindestens 5000 Franken für Menschen mit Lehrabschluss. Der gewerkschaftliche Kampf für Löhne, die zum Leben reichen, geht weiter. In den Betrieben, in den Branchen und in der Politik. Bis in der Schweiz jeder Anto Blazanovic von einem 100-Prozent-Job anständig leben kann. Und jede Antonia Blaser auch.­

Neu erschienen: Fundierte Studie

Mit der Studie «25 Jahre Mindestlohn-Kampagne der Schweizer Gewerkschaften» liegt jetzt eine fundierte ­Auseinandersetzung mit dem Thema Mindestlöhne vor. Verfasst haben sie ­Andreas Rieger, ehemaliger Unia-­Co-Präsident, der die ganze Kampagne entscheidend mitgeprägt hat, und der Ökonom, work-Kolumnist und SGB-Zentralsekretär David Gallusser. ­Neben den historischen Fakten und der Einbettung des Themas in inter­nationale Zusammenhänge haben die Autoren auch statistische Daten in ­einer bis anhin nicht geleisteten Breite ausgewertet. Die Autoren widerlegen die seit Jahrzehnten wiederholten Anti-Mindestlohn-Argumente mit fundierten Zahlen, und die ausführliche Literaturliste bietet allen Interessierten reichlich Stoff zur weiteren Vertiefung.

«25 Jahre Mindestlohn-Kampagne der Schweizer Gewerkschaften» kann hier gratis heruntergeladen werden.


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