Vier Publikationen zum Lebensstandard in der Schweiz
Reden wir über Geld!

Dreimal spröde, einmal mit Bling-Bling: Lohnstruktur-Erhebung, Krankenversicherungsprämien-Index, Armutsmonitor und «Bilanz»-Reichsten-Liste verbindet mehr als nur ihre Veröffentlichungsdaten in den letzten Wochen. Sie zeigen, für wen es schiefläuft im Land. Und für welche extrem kleine Minderheit extrem gut.

Beitrag vorlesen lassen.
0:00 / 10:09
DIE UNGLEICHHEIT WÄCHST: Ein paar wenige in der Schweiz werden immer reicher, während die meisten von uns immer weniger Geld zum Leben haben. (Montage: work; Fotos: Istock, zvg)

I work all night I work all day
To pay the bills I have to pay
Ain’t it sad?
And still, there never seems to be
A single penny left for me
That’s too bad
Abba, «Money, Money, Money» (1976)

Die Löhne

Die Reallöhne der Normalverdienenden stagnieren seit Jahren. Das sagen die Gewerkschaften seit langem. Und die neuste Lohnstrukturerhebung des Bundes bestätigt sie aufs neue. Zwischen 2016 und 2024 resultiert ein reales Wachstum von gerade mal +0,1 Prozent. Während die Produktivität Jahr für Jahr um rund 1 Prozent wächst. Trotzdem blieb der Lohnzuwachs aus. Mehr noch: Während mehrerer Jahre rutschten die Reallöhne sogar ins Minus. Noch vor wenigen Jahren war das anders: Von 2008 bis 2016 kletterten die Reallöhne im Durchschnitt um 1,2 Prozent pro Jahr. 

Der offizielle Medianlohn liegt jetzt bei 7024 Franken. Die Hälfte der Beschäftigten verdient mehr, die andere Hälfte weniger. Die Medianlöhne in den Branchen weichen teilweise massiv ab: Oben stehen Banken und Pharma mit Medianlöhnen von 10'723 beziehungsweise 10'159 Franken. An der Spitze steht auch dieses Jahr als Orchidee die Tabakverarbeitung mit 14'304 Franken. Im Mittelfeld bewegen sich etwa die Maschinenindustrie (7632 Franken) und der Bau (6616 Franken). Und unten die Branchen mit viel direktem Menschenkontakt: Detailhandel (5214 Franken), Beherbergung (4715 Franken), Gastronomie (4744 Franken), persönliche Dienstleistungen (4496 Franken). Es sind jene Branchen, die gesellschaftlich gern gelobt, aber selten gut bezahlt werden. Und in denen überdurchschnittlich viele Frauen arbeiten. 

Die Krankenkassen

Ebenfalls dieser Tage hat das Bundesamt für Statistik (BfS) den neuen Krankenversicherungsprämien-Index (KVPI) veröffentlicht. Er zeigt, wie stark die Prämienentwicklung das verfügbare Einkommen schmälert. Das Problem ist nicht primär ein zu teures Gesundheitswesen, sondern ein falsch konstruiertes Finanzierungssystem. Die Schweiz setzt auf Kopfprämien – also Kopfsteuern. Die Milliardärin bezahlt gleich viel wie der Verkäufer. Der KVPI steigt 2025 um 4,2 Prozent auf 222,9 Punkte (1999 = 100). Noch härter schlägt die Grundversicherung zu: +5,7 Prozent, Indexstand 270,4 Punkte.

Laut BfS dämpft allein dieser Anstieg das Wachstum der verfügbaren Durchschnittseinkommen um 0,3 Prozentpunkte. Für viele Haushalte ist diese «Dämpfung» ein Schlag in die Magengrube. Reto Wyss, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und work-Kolumnist, sagt: «Der Einkommensverlust pro Person beläuft sich auf 220 Franken im Jahr. Und das wohlgemerkt bei Durchschnittswerten. Hunderttausende verdienen deutlich weniger und erhalten trotzdem keine oder viel zu tiefe Prämienverbilligungen.»

Eigentlich sollten diese Verbilligungen jene stützen, die Kopfprämien besonders hart treffen. Mit der Einführung des KVG versprach die damalige bürgerliche Mehrheit im Parlament, niemand müsse mehr als 8 Prozent seines steuerbaren Einkommens für die Prämien zahlen. Dieses Versprechen wird heute systematisch gebrochen. Viele Kantone spannen den Schutzschirm nur noch pro forma auf. Rund die Hälfte hat die Verbilligungen zwischen 2014 und 2024 real gekürzt – zum Teil trotz hohen Überschüssen. Zehn Kantone haben sogar nominal weniger ausbezahlt als vor zehn Jahren. In der Praxis bedeutet das:

  • Die Einkommensschwellen steigen langsamer als die Prämien.
  • Die Beiträge decken einen immer kleineren Teil der effektiven Kosten.
  • Familien, Alleinerziehende und tiefe Einkommen rutschen aus dem Anspruchsbereich oder erhalten zu tiefe Verbilligungen.

Die Armen

Ende November ist der erste Armutsmonitor der Schweiz erschienen. Er zeigt, wie beharrlich sich Armut in der Schweiz hält. Rund 8 Prozent der Bevölkerung leben unter dem Existenzminimum. Das sind über 700'000 Menschen. Seit 2017 ist der Anteil praktisch gleich. Das auch in bürgerlichen Sonntagsreden unbestrittene politische Ziel, die Zahl der Armen in der reichen Schweiz zu senken, bleibt unerreicht. 

Der Bericht arbeitet mit einem mehrdimensionalen Ansatz: Armut bedeutet nicht nur fehlendes Einkommen, sondern eingeschränkte Möglichkeiten, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Über 80 Prozent der einkommensarmen Menschen sind gleichzeitig in mindestens einer weiteren Dimension eingeschränkt. Zum Beispiel bei Bildung, Gesundheit, Wohnen, sozialer Teilhabe oder Erwerbschancen. 

Haushalte mit Kindern, Einelternfamilien, Personen ohne Sek-II-Abschluss und Menschen aus Drittstaaten sind besonders oft betroffen. Viele leben knapp über dem Existenzminimum und damit in permanenter Unsicherheit: Bereits ein um 500 Franken höher definiertes Existenzminimum würde die Armutsquote fast verdoppeln. 

Ein grosser Skandal: 168'000 Erwerbstätige fallen trotz Job unter die Armutsgrenze. Unter den Folgen von Hungerlöhnen leiden insgesamt 300'000 Menschen, darunter 78'000 Kinder. Das Sozialsystem verringert zwar statistisch die Armut unter Erwerbsfähigen und Kindern von 16 auf 6 Prozent, aber es wirkt längst nicht flächendeckend. Denn zwischen 20 und 40 Prozent der Anspruchsberechtigten beziehen keine Leistungen. Sie schämen sich, sind zu wenig gut informiert, oder komplizierte Verfahren schrecken sie ab. 

Was der Armutsmonitor auch zeigt: Armut ist kein Randphänomen, sondern strukturell verankert. Jede zweite Person, die sich aus der Armut löst, fällt innerhalb von fünf Jahren wieder zurück.

Die Reichen

Löhne stagnieren, Prämien explodieren, Wohnen wird immer teurer, und die Zahl jener, die nicht mehr über die Runden kommen, steigt. Ist denn alles schlecht in der Schweiz? Nein, zumindest nicht für alle. Ganz, ganz wenige Leute müssen sich keine Sorgen machen. Sie haben Milliarden geerbt oder Millionen erspekuliert. Sie können sich Privatjets genauso leisten wie Parteien. Und sie stehen auf der Reichstenliste der «Bilanz». Seit 1989 erscheint diese journalistische Fleissarbeit, zuerst mit den 100, dann mit den 250 und seit 1999 mit den 300 Reichsten. Als das Reichsten-Ranking zum ersten Mal erschien, besassen diese zusammen 66 Milliarden Franken. Heute besitzen allein die zwei reichsten in der Schweiz lebenden Clans rund gleich viel wie damals alle 100 Reichsten zusammen. 1989 besassen die 100 Reichsten noch ein Pro-Kopf-Vermögen von 660 Millionen Franken, heute besitzen die 300 Reichsten pro Kopf rund 2,8 Milliarden Franken. Die Mehrheit hat geerbt, ein Teil hat clever spekuliert, und einige haben’s dank Abzocker-Löhnen und Boni-Exzessen auf die Liste geschafft. Was sich seit 1989 auch geändert hat: Die Steuerbelastung für die Über- und Superreichen ist massiv gesunken. Auch darum werden sie immer reicher.

«Reicher Mann und armer Mann 
standen da und sah’n sich an. 
Und der arme sagte bleich, 
wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.» 
Bertolt Brecht, «Alphabet» (1934)

Budget-Debatte: Geld für Armee, keines für Arme

Das Bundesparlament beschäftigt sich in der laufenden Wintersession mit dem Bundesbudget. Wie immer rechnet der Bundesrat Defizite vor. Und die Bürgerlichen ­machen unter dem Deckmantel der «Defizitbekämpfung» Umverteilungspolitik von unten nach oben und bedienen ihre Klientel. 

Das heisst: mehr Geld für die Armee, ­weniger für die ­Armen. Kein Teuerungsausgleich für das Bundespersonal, mehr Subventionen für die Bauern. Wie dreist die ­bürgerliche Mehrheit dieses Jahr ­umverteilt, ist erst nach den Schlussabstimmungen klar. Die Bilanz der Budgetdebatte zieht work nach Sessionsende am 19. Dezember auf workzeitung.ch.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.