Das Beispiel Onsernonetal
Pflege, wie sie sein muss: Ein wildes Tal macht’s vor

Mehr Zeit, mehr Autonomie – und manchmal hilft auch der Postautochauffeur mit. Das Altersheim im Tessiner Onsernonetal zeigt, wie gute Pflege gelingt.

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EINZIGARTIG: Im Centro Sociale Onsernonese im Tessin reden die Bewohnerinnen und Bewohner mit. (Foto: PD)

Im steilen Onsernonetal im Tessin, westlich von Locarno und an der Grenze zu Italien, gibt es wilde, unberührte Natur – und eines der fortschrittlichsten Altersheime der Schweiz. Im Centro Sociale Onsernonese (CSO) reden die Bewohnerinnen und Bewohner mit. Sie entscheiden selber, wo sie sich aufhalten, wann sie essen, ob sie Unterstützung brauchen, ob sie im Betrieb mithelfen. Beppe Savary-Borioli, ärztlicher Leiter und Mitgründer, sagt:

Wir wollen den Leuten so gut wie möglich das ­Gefühl geben, dass sie hier zu Hause sind.

Die «residenti» sollen ihre Autonomie behalten, ­solange es geht.

ENGAGIERT: CSO-Mitgründer und Heimleiter Beppe Savary-Borioli. (Foto: PD)

Savary-Borioli, seit über 40 Jahren Haus-und Notarzt im Tal, wäre eigentlich seit 2017 pensioniert. Doch wegen Nachfolgeschwierigkeiten stieg er 2023 wieder ein. Heute ist er 73 und spricht mit jugendlicher Begeisterung vom Zentrum. Dieses umfasst die Praxis, die er zusammen mit einer Kollegin betreibt, Physiotherapie, einen Spitex-Dienst und, nicht zuletzt, ein Restaurant.

Abgesehen von wenigen Ausnahmen sind die Türen im Heim immer offen. Für die Bewohnenden, aber auch für Leute ausserhalb. Besuchszeiten gibt es nicht, fixe Essenszeiten auch nicht. Niemand muss um 17 Uhr Znacht essen wie in anderen Heimen. Auch einen ­Aufenthaltsraum hat das Centro nicht. Dafür einen geräumigen Eingangsbereich, der auf eine ­Piazza führt. Savary-Borioli erklärt: «So sehen die Leute, was läuft. Sie nehmen am Leben teil.» Klar, es sei auch schon passiert, dass eine verwirrte Person weggelaufen sei. «Dann sagen uns das die anderen Bewohnerinnen und Bewohner.» Oder jemand im Tal gibt Bescheid – man kennt sich halt. Ein mittlerweile verstorbener Bewohner, sagt Savary-Borioli, sei pensio­nierter Berufsmilitär gewesen und jeden Tag mehrere Kilometer marschiert. Einmal sei er vom Regen überrascht worden. «Als er pflotsch­nass die Strasse hinaufging, kam von hinten das Postauto. Der Fahrer hielt an und sagte: ‹Du willst doch ins Centro. Komm, steig ein.›»

«Wir hören zu»

Am wichtigsten für die Lebensqualität im Heim sind die Bedingungen, unter denen die Pflegenden arbeiten. Gute Pflege braucht Zeit. Die gebe es – jedenfalls mehr als anderswo, sagt Laure Kaspar. Die 35jährige ist seit vier Jahren Pflegefachfrau am CSO und sagt:

Wenn wir merken, dass jemand etwas auf dem Herzen hat, hören wir zu.

FÜR DIE BEWOHNENDEN DA: Pflegefachfrau
Laure Kaspar. (Foto: PD)

Klar, an einigen Tagen habe man mehr Zeit dafür, an anderen weniger. Aber, und das ist eine der Besonderheiten des Centro Sociale: Für alles, was über die Pflege im engeren Sinn hinausgeht, haben Kaspar und ihre Kolleginnen Unterstützung. Einmal pro Woche kommt eine spezialisierte Pflegefachfrau ins Heim. Sie kümmert sich um soziale, intellektuelle oder emotionale Anliegen der Leute im Heim. Und deckt damit Bedürfnisse ab, die wesentlich sind für eine gute Lebensqualität. Für die aber in vielen Heimen den Pflegenden die Zeit fehlt (zur Vertiefung dieser work-Bericht).

CSO-Direktor Michele Beretta sagt, man praktiziere die «frühzeitige Palliativpflege». Gemeint ist das Lindern nicht erst kurz vor Lebensende, sondern früher, und zwar von allen Symptomen, die die Lebensqualität beeinträchtigen. «Dazu gehören auch Kummer oder Einsamkeit.» So sei es eine Pflege fürs Leben und nicht für das Ende des Lebens.

Rezepte gegen den Stress

Unia-Mitglied Laure Kaspar zählt weitere Vorteile auf. So mache das Heim Ernst mit der Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner:

Alle haben ihren eigenen Pflegeplan. Der basiert auf ihren Werten und legt fest, was wir machen.

Erarbeitet und angepasst werde das Dokument jeweils in einem Gespräch mit allen Beteiligten: Die betroffene Person, die Pflege, ein Arzt oder eine Ärztin und die Angehörigen. Dann sei der Betrieb auch einfach gut organisiert, mit klaren Zuständigkeiten und Abläufen. Dies vermindere den Stress, besonders wenn Unvorhergesehenes passiere, was ­­in der Pflege immer wieder vorkomme. Auch die Dienstpläne würden vernünftig erstellt: «Unsere Wünsche werden meist berücksichtigt. Und wenn es nötig ist, werden mehr Leute eingeteilt.»

Fachlich will die Gemeinschaft im abgelegenen Bergtal hohen Ansprüchen genügen. Es ist eins von nur zwei Heimen im Kanton, die für palliative Langzeitpflege zertifiziert sind; mehrere Pflegende haben Zusatzausbildungen in diesem Bereich. Direktor Beretta sagt:

Wissen ist der Rohstoff für das, was wir tun. Deshalb investieren wir massiv in die Ausbildung der Leute.

Dafür sucht das CSO jeweils private Sponsoren.

40 Prozent der Pflegekräfte sind diplomierte Pflegefachpersonen; der landesweite Durchschnitt bei Altersheimen liegt bei 27 Prozent. Zudem verzichtet das CSO komplett auf den Einsatz von Temporärmitarbeitenden, zugunsten von mehr Beständigkeit. Das zahle sich aus, so Beretta: Unter den rund 60 Mit­arbeitenden gebe es im Schnitt nur zwei bis drei Abgänge pro Jahr.

Wie geht das alles? Schliesslich hängen auch im Onsernonetal die Beiträge von Krankenkassen und öffentlicher Hand von den Pflegestufen der Bewohnerinnen und Bewohner ab – festgelegt nach einem System, das nur Pflegeleistungen im engeren Sinn berücksichtigt, nicht aber das Pflegen einer menschenwürdigen Beziehung (der work-Artikel zum Thema). Direktor Beret­ta sagt, erst das Zusammenspiel aller Zutaten liefere das gewünschte Ergebnis. Dazu gehörten auch das sorgfältige Erfassen der Symptome, damit von der Arbeit der Pflegenden möglichst viel entschädigt werde. Dank den klaren Strukturen und weil man die Menschen im Heim gut kenne, spare man zudem Zeit.

Enrico Borelli, Co-Leiter Pflege bei der Unia, hat noch eine weitere Zutat festgestellt. Vorletztes Jahr hat er die Pflegenden im CSO zwei Tage lang begleitet. Er sagt:

Alle, die dort arbeiten, tun das mit riesigem Engagement.

Trotz allem sagt Savary-Borioli: Das Geld sei chronisch knapp. Das mache es nötig, das Geld dort einzusetzen, wo es am meisten brin­ge. Was er dann sagt, kommt vielleicht dem Geheimnis des «Centro Sociale» am nächsten. «Wir müssen immer clevere Lösungen finden.»

Pflegedemo: Es ist 5 nach 12

Vier Jahre nach dem deutlichen Ja zur Pflegeinitiative zeigt sich: Der Vorschlag des Bundesrates zur Umsetzung ist lückenhaft. So lässt sich die langsame Zerstörung der Gesundheitsversorgung nicht aufhalten, das Parlament muss nachbessern. Mit der Botschaft «Es ist 5 nach 12» ruft eine breite Allianz der Gesundheitsberufe zu einer gemeinsamen Kundgebung am 22. November in Bern auf. Damit auch die Politik merkt: So kann es nicht weitergehen! Die Unia rechnet mit vielen Teilnehmenden und organisiert deshalb Extrazüge nach Bern.

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