Fachtagung Pflege: System der Pflegefinanzierung bedroht die Qualität

Was Pflegende wollen – und ­woran sie leiden

Christian Egg

Was macht gute Pflege in Heimen aus? Für die Pflegenden ist klar: Viel mehr als waschen, Essen geben und Medis verteilen.

ZEIT FÜR MENSCHLICHKEIT: Minutengenaue, eng getaktete Pflegepläne machen es den Pflegenden oft
unmöglich, Heimbewohnerinnen und -bewohnern Zuwendung zu zeigen. (Foto: Keystone)

Wie viele Bewohnerinnen und Bewohner des Altersheims sind unterernährt? Wie viele haben täglich Schmerzen oder müssen mehr als acht verschiedene Medikamente schlucken, was das Risiko von unerwünschten Auswirkungen erhöht? Und wie viele werden mit Gittern, Gurten oder ähnlichem daran gehindert, selbständig aufzustehen?

Das sind, laut einem Bericht des Bundes vom letzten Jahr, die vier offiziellen Kriterien für gute Qualität in Schweizer Alters- und Pflegeheimen. Erarbeitet vom Heimverband Curaviva zusammen mit Bund und Kantonen. Bewohnerinnen und Bewohner wurden nicht gefragt, was für sie gute Pflege ausmache. Ebenso wenig die Menschen, die tagtäglich diese Pflege erbringen: Pflegefachfrauen und -männer, Fachleute Gesundheit, Pflegehilfen.

Genau dies hat jetzt die Unia getan. In einem Forschungsprojekt äusserten sich Pflegende aus allen Landesteilen zur Frage, was gute Pflege ausmache. Die fünf Gruppendiskussionen mit insgesamt 30 Teilnehmenden werden jetzt wissenschaftlich ausgewertet. An der Unia-Fachtagung «Gute Pflege» vom 2. September präsentierte Nicolas Pons-Vignon erste Ergebnisse. Er ist Professor an der Fachhochschule Südschweiz und leitet das Projekt im Auftrag der Unia.

«Die Mitarbeitenden in den Heimen sehen sich gezwungen, die Pflege zu rationieren.»

ZEIT, ZEIT, ZEIT

In allen Diskussionen seien sich die Pflegenden ­einig gewesen: Gute Pflege leistet mehr, als die ­Bewohnerinnen und Bewohner sauber, satt und schmerzfrei zu halten. Sie anerkennt vielmehr, dass die Bedürfnisse von Menschen in Heimen vor allem auf der Beziehungsebene liegen. Sie möchten jemanden, der ihnen zuhört, mit ihnen Zeit verbringt. Pons-Vignon: «Kurz gesagt: Gute Pflege braucht Zeit.»

Und genau das ist es, was vielen Pflegenden fehlt: Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner, Zeit für Menschlichkeit. Denn heute ist für jede Pflegehandlung minutengenau festgelegt, wie lange sie dauern soll.

Verantwortlich dafür ist das System der ­Pflegefinanzierung, wie es in der Schweiz in den nuller Jahren eingeführt wurde: Es wird regel­mässig ermittelt, wie viel Pflege jemand benötigt. Abhängig davon erhält das Heim mehr oder weniger Geld von Krankenkassen und öffent­licher Hand. Und da das Heim Profit abwerfen oder mindestens selbsttragend sein muss, dürfen die Pflegenden für eine Person nicht mehr Zeit brauchen als festgelegt.

DAS WICHTIGSTE FEHLT

Dieses System verhindert gute Pflege, wie sie die Pflegenden verstehen. Sandra Schmied, Pflegefachfrau und Unia-Mitglied, sagt es so: «Es berücksichtigt den wichtigsten Aspekt unserer Arbeit nicht, nämlich dass wir die Leute, die wir pflegen, auch als Menschen behandeln.» Mehr noch, doppelt Nathalie Fischer nach, Schmieds Berufskollegin aus der Westschweiz: «Das System ist ein grosser Bschiss. Seine Kategorien passen nicht zur ­Realität.» Zum Beispiel habe sie in einem Altersheim gearbeitet, wo sich mehrere Zimmer ein Badezimmer auf dem Korridor teilten. Also begleitete sie die Seniorinnen und Senioren einzeln ins Bad und wieder zurück. «Das System gibt vor, wie lange wir fürs Duschen einer Person brauchen dürfen. Aber dass die Wege auch Zeit brauchen, das ist nicht berücksichtigt.»

Nicht nur die Pflegenden wünschen sich mehr Zeit. Baptiste Hurni von den Schweizer Pa­tientenstellen betonte an der Tagung, dass ältere Menschen zunehmend Mühe hätten zu verstehen, was im Heim oder bei Behandlungen mit ihnen passiere. «Das hat auch damit zu tun, dass die Mitarbeitenden keine Zeit mehr haben, mit den Pflegebedürftigen zu sprechen.» Und Beppe Savary, seit 40 Jahren engagierter Hausarzt im Tessin, berichtete von seiner Arbeit im wilden Onsernonetal: «Je mehr Zeit ich mit den Leuten verbrachte, desto weniger Medikamente verschrieb ich.»

DIE PFLEGE RATIONIEREN

Doch das heutige System der Pflegefinanzierung wirkt in die Gegenrichtung: mehr Standardisieren, mehr Fliessbandarbeit – um die Kosten weiter zu senken. In seiner Forschung stellte Professor Pons-Vignon fest: «Die Mitarbeitenden sehen sich gezwungen, die Pflege zu rationieren. Und daran leiden sie – mehr noch als an den schlechten Arbeitsbedingungen.»


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