Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

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Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

«Das grenzt an Sklaverei», titelt am 30. Juni 1996 der «Sonntagsblick». Der Grund:
Kellner Anto Blazanovic muss im Berner Restaurant Sternenberg plötzlich acht Stunden mehr arbeiten, also neu 50 Stunden pro Woche. Und das erst noch für weniger Lohn. Was ist passiert? Der Landesgesamtarbeitsvertrag für die Gastronomie, der L-GAV, gilt nicht mehr. Tausende ­Wirte nutzen den vertragslosen Zustand, um die ohnehin schon tiefen Löhne weiter zu senken und die Arbeitszeiten von 42 auf bis zu50 Stunden pro Woche zu verlängern. Im «Blick» macht Familienvater Blazanovic seiner Empörung Luft: Das sei «eine Frechheit. Das ist ­Ausnützen eines vertragslosen Zustands, Ausbeuterei und nahezu Sklaverei.»

Japanisch

Doch die kleine unia, eine Vorgängerin der grossen Unia, macht Druck. In Bern führt sie eine schwarze Liste mit den Namen der Beizen, die Verschlechterungen vorgenommen haben. Gleichzeitig führt sie eine weisse Liste mit Restaurants, die die Standards beibehalten. Und sie verteilt Flugblätter: an die Kundschaft in Restaurants,an Touristinnen und Touristen. In fünf Sprachen, darunter Englisch und Japanisch: «Es ist nicht alles Gold, was glänzt.»

Drastisch

1997 nimmt der Druck auf die Wirte und Hoteliers zu. Sie setzen sich mit der Union Helvetia, der Vorgängerin der Hotel & Gastro Union, an den Verhandlungstisch. Aber die Forderungen der Patrons sind dreist: Sie wollen eine 44-Stunden-Woche, bloss noch das gesetzliche Minimum bei den Ferien und nur noch zwei Mindestlohnkategorien – die einzig für Vollzeitarbeitende gelten sollen. Mit den meisten Forderungen kommen sie nicht durch, als der neue Vertrag 1998 in Kraft tritt. Trotzdem: die Löhne bleiben skandalös tief. Dennoch ist die Wiederinkraftsetzung des L-GAV ein Fortschritt für Zehntausende von Büezerinnen und Büezern im Gastgewerbe.

Gigantisch

Dann, im Mai 2001, steigt die Spannung: der L-GAV soll erneuert werden. unia-Leute demonstrieren in Koch- und ­Servicekleidung bei Gastrosuisse. Eine von zahlreichen Aktionen, mit der die Gewerkschaft öffentlichen Druck aufbaut. Und endlich geht es vorwärts bei den Löhnen. Die Vertragspartner einigen sich auf einen grossen Sprung nach oben: fast 20 Prozent mehr für Ungelernte.

Optimistisch

Der grösste GAV der Schweiz hat eine lange und bewegte Geschichte. Der erste Vertrag entsteht 1919, wird jedoch nicht erneuert. Der nächste tritt 1974 in Kraft. Nach 1998 wird der Vertrag regelmässig erneuert, mit grossen Verbesserungen ­bei der Aus- und Weiterbildung. Letztmals 2017. Denn 2019 lässt Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer die Verhandlungen platzen. Der Stein des Anstosses: Die Unia und die Syna unterstützen Initiativen für kantonale Mindestlöhne. Der Ex-Oberbeizer reagiert mit einer Totalblockade. Davon hält der neue Gastrosuisse-Präsident, Beat Imhof, wenig: «Mit Blockaden gibt es nichts zu gewinnen.» Doch ob er «zu den Guten ­gehört», wie Gastrofrau Alessandra Cesari sagt, muss er in den neuen Verhandlungen erst noch beweisen (zum work-Beitrag).

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