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Regula Rytz, Delegierte bei den European Greens, ehem. Nationalrätin und Präsidentin der Grünen, Mitglied der Arbeitsgruppe Europa des gewerkschaftsnahen «Denknetzes». (Montage: work)

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist unter Druck. Seit dem Juli hat das EU-Parlament bereits dreimal über ihren Rücktritt abgestimmt. Zweimal kam der Angriff aus der extremen Rechten. Und einmal aus der Linken. Beide Seiten blieben chancenlos. Denn eine Alternative zu von der Leyen gibt es realistischerweise nicht. Müsste die EU-Chefin ihren Posten räumen, dann würde die Kommission noch weiter nach rechts rücken. Das ist simple Mathematik. Im Parlament haben allein FDP und Christdemokraten mehr Sitze als Sozialdemokraten, Grüne und Linke zusammen. Dazu kommt die extreme Rechte – von den Fratelli d’Italia über Ungarns Fidesz bis zur Alternative für Deutschland. Ein gutes Umfeld für soziale und ökologische Politik sieht anders aus. Die sozialdemokratischen und grünen Kräfte im EU-Parlament verlieren ihre Zeit deshalb nicht mit Rücktrittsgeplänkel. Sondern ringen hartnäckig und zäh um jeden noch so kleinen Fortschritt.

In die falsche Richtung

Der ist auch dringend nötig. Eine jüngste Umfrage belegt, dass die Armut insbesondere in den südöstlichen EU-Ländern wächst. In Griechenland und Moldawien bezeichnet sich fast die Hälfte der Bevölkerung als so arm, dass eine unerwartete Ausgabe das Haushaltsbudget aus dem Tritt bringt. Auch in Ländern wie Rumänien ist das Armutsrisiko gross. Verantwortlich dafür sind tiefe Löhne und steigende Wohn- und Gesundheitskosten. In ihrer jüngsten Rede «Zur Lage der EU» hat Ursula von der Leyen diese Probleme zwar angesprochen. Sie verspricht eine «ambitionierte europäische Strategie zur Armutsbekämpfung» genauso wie einen «ersten europäischen Plan für erschwinglichen Wohnraum». Nur fehlen sowohl die konkreten Massnahmen als auch die Finanzierung dazu. Und viele der geplanten Reformen, zum Beispiel beim Europäischen Sozialfonds, gehen exakt in die falsche Richtung.

HARTNÄCKIG FEILEN

In diesen schwierigen Zeiten ist gutes politisches Handwerk gefragter denn je. Denn trotz Widerständen sind immer noch Verbesserungen möglich. So hat das Europäische Parlament kürzlich eine Verstärkung der Europäischen Betriebsräte-Richtlinie (EBR) beschlossen. Arbeitnehmende in multinationalen Konzernen erhalten ­damit grenzüberschreitende Konsultationsrechte, verbindliche Mitsprache und stärkeren Schutz. Während die Branchenverbände – zum Beispiel in der Chemie – nun das «Ende des Betriebsfriedens» beklagen, feiern die Gewerkschaften die Stärkung der Wirtschaftsdemokratie. Ein Meilenstein sind vor allem die Sanktionsmassnahmen. Wer die Information und Konsultation von Beschäftigten ignoriert, muss künftig mit spürbaren Sanktionen ­rechnen – abgestimmt auf den Umsatz des Unternehmens und die Schwere des Verstosses. Auch im Bereich Wohnen geht es vorwärts. Ein Sonderausschuss des EU-Parlaments prüft zurzeit neue Modelle der Wohnraumförderung. So sollen die Gemeinden mehr Möglichkeiten erhalten, den Bau von bezahlbarem Wohnraum zu unterstützen. Ein weiteres Ziel ist es, die Vernichtung von Wohnraum durch Airbnb & Co. zu stoppen. All das zeigt uns: Hartnäckig dranbleiben, schleifen, feilen und dicke Bretter bohren – mit diesem Spirit kommen wir in der EU und in der Schweiz voran.

Regula Rytz schreibt hier im Turnus mit Roland Erne, was die europäische Politik bewegt.

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