Gericht stellt Luxuslabel Loro Piana unter Aufsicht
Der tapfere Schneider und das dreckige Mode-Business

Mailand ist ein gutes Pflaster für Luxusmode. Und ein ganz übles für die Arbeiterinnen und Arbeiter, die das produzieren, womit die Reichen prahlen. Ein Staatsanwalt will das ändern. Und ist erstaunlich erfolgreich. 

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Kamera und Schnitt: Julia Neukomm

Im Mai stellt ein chinesischer Schneider mit dem Mut des Verzweifelten seinen Chef zur Rede. Ultimativ fordert er von Hu «Stefano» Xizhai die ausstehenden Löhne. Doch statt Geld gibt’s massive Prügel. Mit blossen Fäusten und Metallrohren. 

Die Firma heisst Clover Moda. Ihr Standort ist der Mailänder Vorort Branzate. Knapp 12'000 Einwohner, knapp 5000 Haushalte, rund 1000 eingetragene Firmen. Viele Zulieferbetriebe. Viele Hinterhof-Fabriken. Viel Ausbeutung. Die chinesische Diaspora ist die grösste Einwohnerinnengruppe ohne italienischen Pass. Selten, dass sich eine oder einer wehrt. Doch der tapfere verprügelte Schneider zeigt seinen Chef an. Am 13. Mai durchsuchen die Carabinieri die Clover Moda. Und stechen in eine weitere Eiterbeule der Modeindustrie.

Auf der Stelle verhaftet

Über die Hälfte der weltweiten Luxusmode wird in Italien produziert. Ein erheblicher Teil davon in der Lombardei in der Grossregion Mailand. Doch während es auf den Laufstegen glitzert und in den Luxusboutiquen gut riecht, stinken die Arbeitsbedingungen zum Himmel. 

Was die Ermittler von Staatsanwalt Paolo Storari in den Werkstätten von Clover Moda und der Partnerfirma Dai Meiying in Senago finden, ist kein Einzelfall, sondern hat System. 21 Mitarbeitende, überwiegend chinesische Migranten, schuften unter menschenunwürdigen Bedingungen. Sie sind illegal beschäftigt, hausen in baufälligen Schlafsälen direkt neben den Nähmaschinen, müssen rund um die Uhr arbeiten. Sieben Tage die Woche. Die Stromverbrauchskurven beweisen es.

An den Maschinen fehlen Sicherheitsvorrichtungen. Für die als Schlafstätten genutzten Räume gibt es keine «Bewohnbarkeitsbescheinigungen». Löhne liegen – wenn sie überhaupt bezahlt werden – weit unter dem Tarif, keine Sozialversicherung, keine medizinische Betreuung – alles klassische Merkmale des «Caporalato», wie in Italien die systematische Ausbeutung durch Scheinselbständigkeit und verschachtelte Subunternehmen genannt wird.

Der Mann, der den mutigen Schneider krankenhausreif schlagen liess, heisst Hu Xizhai und lässt sich «Stefano» nennen. Er wird bei der Razzia auf der Stelle wegen Körperverletzung, Zwangsarbeit, Arbeitsrechtsverletzungen verhaftet. 

Baby-Kaschmir

In den Werkstätten entdecken die Carabinieri nicht nur fertige Produkte und Etiketten, sondern auch Produktionsunterlagen wie Schnittmuster, Verträge und Aufträge. Das heutige Unternehmen wurde 1924 gegründet und galt lange als Inbegriff italienischer Textilkunst. Die Familie Loro Piana war bereits vor der Gründung der Kleiderfabrik als Stoffhändlerin erfolgreich. Heute ist Loro Piana vor allem für luxuriöse Kaschmir-Mode und der Verarbeitung seltener Materialien wie Baby-Kaschmir und Vikunja-Wolle bekannt. 2013 übernahm der französische Luxusmulti LVMH das Traditionsunternehmen für rund zwei Milliarden Euro. 

Bei LVMH hat Luxus-Oligarch Bernard Arnault das Sagen

Loro Piana ist eine der 75 Marken, die zum Luxuskonzern LVMH gehören. LVMH wird vom Arnault-Clan kontrolliert. Patriarch ist der 76jährige Franzose Bernard Arnault. Er war zeitweise reichster Mensch der Welt (heute «nur» noch von Europa) und steuert den Luxuskonzern LVMH über ein verschachteltes Geflecht aus Holdinggesellschaften. Der Konzern ist bis aufs letzte steueroptimiert. Die Margen sind gigantisch, die Arbeitsbedingungen in den ­Fabriken der Lieferketten hingegen unterirdisch. 

DER PATRIARCH UND SEIN ZÖGLING: Bernard Arnault und Sohn Frédéric. (Foto: Getty Images)

Arnaults Einfluss reicht weit über den Luxusmarkt hinaus. Er besitzt die Tageszeitung «Le Parisien» und das Wirtschaftsblatt «Les Echos». Berichte über miese Arbeitsbedingungen oder über die Enthüllungen zu Arnaults Offshore-Vermögen in acht Steuerparadiesen sind dort nicht erwünscht. 

Trumps Buddy. In den 1980er Jahren floh Arnault in die USA, weil die Sozialisten ihn ein bisschen höher besteuern wollten. Seither ist er privat, geschäftlich und unterdessen auch familiär mit Donald Trump eng verbandelt. Bei Trumps zweiter Amtseinsetzung sass Arnault in der ersten Reihe. Er bezeichnet sich selbst als «besten Trump-Freund Europas» und empfiehlt Frankreich Trumps innenpolitische Kettensägen-Politik. 

Arnault hat fünf Kinder, von denen vier bereits im LVMH-Verwaltungsrat sitzen. Sein zweitjüngster Sohn, Frédéric (29), ist Loro-Piana-Chef. Arnault senior selbst denkt nicht im geringsten ans Abtreten: eben erst hat er die Altersgrenze für den CEO auf 85 Jahre hochsetzen lassen.

Lieferkette des Grauens

Offizieller Produzent der bei der Razzia beschlagnahmten Kaschmir-Jacken ist die Evergreen Fashion Group Srl mit Sitz in Mailand. Diese hat weder die Maschinen noch das Personal zur Textilherstellung. Dafür elegante Büros in der Gegend der Basilika Sant’Ambrogio. Die Staatsanwaltschaft wird genau das später als Beleg für das Verschleierungssystem anführen: Ein Unternehmen mit eleganten Büros in bester Mailänder Lage, das aber weder über Maschinen noch über Personal zur Textilherstellung verfügt und dennoch grosse Produktionsaufträge von Loro Piana bekommt.

Evergreen gibt den Auftrag weiter an Sor-Man in Nova Milanese nördlich von Mailand. Doch auch Sor-Man fehlen die Kapazitäten, die geforderten Stückzahlen zu den angebotenen Tiefstpreisen herzustellen. Maria-Teresa Provenzi, Co-Geschäftsführerin von Sor-Man, erklärte vor der Staatsanwaltschaft: «Die Volumen waren hoch, etwa 6000 bis 7000 Jacken pro Jahr für Loro Piana. Um den Kunden (Loro Piana, Anm. der Redaktion) zu halten, habe ich an chinesische Staatsbürger ausgelagert.» Evergreen habe darüber Bescheid gewusst. Trotzdem habe Loro Piana nur bei ihr Kontrollen durchgeführt, nie bei ihren Subunternehmern.

Margen wie im Drogenhandel

Sor-Man wiederum beauftragte die chinesischen Werkstätten Clover Moda in Branzate und Dai Meiying in Senago. Spätestens dort, am Ende einer langen Kette von Subunternehmern, ist aus der luxuriösen Modeschau definitiv eine Horror-Show geworden. In Hinterhof-Fabriken stellen ausgebeutete Arbeiterinnen und Arbeiter jährlich Tausende Jacken für Loro Piana her. Die Firma bekam dafür von Evergreen 80 Euro ohne Zuschnitt und 86 Euro mit Zuschnitt pro Stück. Die Preise schwankten um maximal 10 Euro. Die gesamten Produktionskosten für einzelne Kaschmir-Jacken beliefen sich laut der Staatsanwaltschaft auf knapp 100 Euro – Loro Piana verkauft sie für bis 3000 Euro. Das sind Profitraten wie im Drogenhandel.

Das Urteil

Staatsanwalt Paolo Storari ist seit Jahren der Schreck der Mailänder Luxuskonzerne (siehe Artikel unten). Er sieht in der Lieferketten-Kaskade eine bewusste Geschäftsstrategie zur Gewinnmaximierung. Auch Loro Piana verfolge eine Philosophie des «maximalen Profits bei minimalen Kosten». Die drei Richterinnen des zuständige Mailänder Gerichts sehen es genauso. Angesichts der extremen Differenzen zwischen Herstellungs- und Verkaufspreisen hätte dem Loro-Piana-Management klar sein müssen, dass etwas nicht sauber laufen konnte. Das Luxusunternehmen habe strukturell und grobfahrlässig Arbeitsausbeutung bei chinesischen Subunternehmen in der eigenen Lieferkette geduldet und dabei bei der Auswahl und Kontrolle seiner Zulieferer massiv versagt.

Unter Aufsicht

Das Mailänder Gericht verhängt deshalb eine einjährige gerichtliche Aufsicht über Loro Piana. Das bedeutet: Dem Management wird ein staatlich berufener Verwalter zur Seite gestellt, der über Korrekturen der Abläufe wachen soll. Das Unternehmen muss beweisen, dass es seine Lieferketten tatsächlich kontrolliert und Missstände verhindert. Nach der Razzia hatte Loro Piana reagiert, wie die meisten reagieren, bei denen in der Lieferkette unmenschliche Arbeitsbedingungen oder ökologischer Raubbau ans Licht kommen: Sie kündigte die Verträge mit den aufgeflogenen Firmen, gab sich schockiert und betonte ihr «Bekenntnis zu höchsten ethischen Standards, Menschenrechten und rechtlichen Normen». Man habe bereits einen umfassenden Plan zur Verbesserung der Lieferketten-Kontrollen ausgearbeitet. Der staatliche Aufseher schaut jetzt während der nächsten 12 Monaten, dass dieser Plan auch umgesetzt wird. Nicht so, wie der bisherige. Der war laut Gericht ein Papiertiger. Und wäre es geblieben – hätte nicht ein vom Chef zusammengeschlagener chinesischer Schneider mit dem Mut des Verzweifelten die Polizei eingeschaltet. Und diese wiederum einen Staatsanwalt, der sich von Modekonzernen nicht blenden lässt. Und auch nicht einschüchtern.

Konzernverantwortung: Schweiz hinkt nach

Die Schweiz hat keinen Staatsanwalt Paolo Storari. Dafür eine Konzernministerin Karin Keller-Sutter. Diese verhindert als bundesrätliche Frontfrau, getragen von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit, mit (fast) allen Mitteln, dass Schweizer Firmen für von ihnen verantwortete Sauereien in der Lieferkette Verantwortung übernehmen müssen.

Darum ist die Schweiz weiterhin das einzige Land Europas ohne Konzernverantwortung. Obwohl eine Mehrheit des Volks mehr Konzernverantwortung wollte und die entsprechende Initiative nur am Ständemehr scheiterte, bei dem die Stimme eines Appenzeller Innerrhödlers 40 Mal so viel zählt wie jene einer Zürcherin. Das will eine neue Initiative ändern. Die «KVI 2.0» wurde innert Rekordzeit gesammelt und eingereicht. Jetzt sind wieder Bundesrat und Parlament an der Reihe. Und dann das Volk.


Mailands härtester Staatsanwalt jagt Ausbeuter-Konzerne Paolo Storari – ein Name, der Bosse erbleichen lässt

Wenn sich Staatsanwalt Paolo Storari bei Firmen mit auf Hochglanz polierten Namen meldet, werden die Manager ganz bleich. Und sie haben allen Grund dazu. Der in Mafia-Verfahren gestählte Jurist setzt Arbeitnehmendenrechte ebenso hartnäckig wie erfolgreich durch. 

MISCHT DIE KONZERNE AUF: Staatsanwalt Paolo Storari sorgt in Italien dafür, dass Zehntausende legale Jobs geschaffen wurden. (Foto: Alamy)

Der Luxusmodekonzern Loro Piana ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Die endlosen Lieferketten, an deren Ende ausgebeutete Arbeitende stehen, sind bei vielen Konzernen kein Betriebsunfall, sondern «eine so tief verwurzelte illegale Praxis, dass sie als Teil einer Geschäftspolitik zur Gewinnmaximierung angesehen werden muss. Neben der offiziellen Unternehmensstruktur – mit ethischen Vereinbarungen und Verantwortlichkeitsmodellen, die nur der Fassade dienen – existiert eine inoffizielle, die einzig auf Profit ausgerichtet ist.» Das sagt nicht etwa eine Gewerkschafterin oder ein linker Politiker. Das schreibt die Mailänder Staatsanwaltschaft. Und sie belässt es nicht bei starken Worten, sondern folgt seit rund fünf Jahren mit energischen Taten.

Aus Mafia-Verfahren gelernt

Der Mann dahinter heisst Paolo Storari. Er ist 59 Jahre alt und hat in Mafia-Verfahren gelernt, wie man verschachtelte Strukturen freilegt. Als erfahrener Ermittler der Antimafia-Staatsanwaltschaft in Mailand hat er kriminelle Netzwerke in der Lombardei zerschlagen. Heute enttarnt er die schmutzigen Lieferkettengeschäfte von Grosskonzernen. Sein Werkzeug: die «amministrazione giudiziaria». Offiziell keine Strafe, sondern eine «präventive Massnahme», die Firmen helfen soll, ihre Lieferketten so zu kontrollieren, wie sie es in ihren Hochglanzbroschüren versprechen. In der Praxis ist die «gerichtliche Verwaltung» ein radikaler Eingriff: Für ein Jahr zieht ein Verwalter in die Chefetage ein, durchleuchtet Prozesse – und zwingt das Unternehmen, echte Kontrollen einzuführen und das Arbeitsgesetz einzuhalten. Die Kosten für den Verwalter und die nötigen Massnahmen trägt die Firma.

Liste der Schande

Die Liste betroffener Unternehmen liest sich wie ein Who’s who der Luxusbranche: Dior (ebenfalls LVMH wie Loro Piana) wurde erst im März dieses Jahres aus der Zwangsverwaltung entlassen. Giorgio Armani Operations stand von April 2024 bis Februar 2025 unter Aufsicht. Valentino steht seit Mai 2025 unter Kontrolle. Alviero Martini wurde bereits im Januar 2024 unter gerichtliche Verwaltung gestellt. Auch im Sicherheits- und Transportwesen räumt Storari auf: Unter anderem gerieten Amazon, DHL, Fedex, Esselunga, Carrefour und Sicherheitsfirmen wie Sicuritalia ins Visier. Sogar in der Landwirtschaft schlug er zu. In allen Fällen das gleiche Muster: Firmen, die sich hinter komplexen Lieferketten verstecken, an deren Ende Näherinnen, Sicherheitsbeauftragte, LKW-Fahrer und Landarbeiterinnen für Hungerlöhne und ohne soziale Absicherung chrampfen.

Bilanz des Erfolgs

Storaris Prinzip funktioniert, weil es dort ansetzt, wo Konzerne wirklich empfindlich sind: beim Image und beim Geld. Wer unter gerichtlicher Aufsicht steht, muss nicht nur intern umkrempeln, sondern steht auch unter öffentlicher Beobachtung. Interne Pseudokontrollen und schöne Broschüren genügen nicht mehr – jede Stufe der Lieferkette muss belegt, kontrolliert und dokumentiert werden.

Mit seiner Arbeit bekämpft Storari nicht nur die Überausbeutung von Arbeitenden – er schafft auch dauerhafte, legale Jobs und generiert damit Einnahmen für die Sozialversicherungen und die Staatskasse: in den letzten gut fünf Jahren rund 550 Millionen Euro und insgesamt über 49'000 neue reguläre Arbeitsverträge in verschiedenen Branchen. Allein in den jüngsten Fällen waren es rund 14'000. Darunter etwa:

  • Esselunga: 3000 Arbeitende fest angestellt
  • DHL: 1500 reguläre Verträge
  • Sicuritalia: rund 6800 Sicherheitskräfte mit 38 Prozent Lohnerhöhung
  • Mondialpol: rund 4700 Beschäftigte mit plus 200 Euro im Monat

Kritikerinnen und Kritiker werfen der Mailänder Staatsanwaltschaft vor, einen «mehr politisch als juristisch motivierten Feldzug» zu führen. In der marktradikalen Mailänder Tageszeitung «Il Foglio» stand dazu: «In Mailand gibt es einen Staatsanwalt, der mehr Arbeitsplätze schafft als so mancher Wirtschaftsminister.» Das war nicht als Lob gemeint. Storari wird’s mit Fassung tragen.

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