60 Jahre nach der Katastrophe von Mattmark
Das Wallis entschuldigt sich. Endlich!

Es war eine historische Rede, die viele Zuhörende zu Tränen rührte: Der Walliser Regierungspräsident Mathias Reynard hat sich offiziell bei den Angehörigen der Opfer der Mattmark-Tragödie entschuldigt. Für Irritation sorgte hingegen Bundesrat Ignazio Cassis. 

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MATTMARK-GEDENKKREUZ: Die Tragödie war nicht gottgegeben, sondern menschengemacht. (Foto: Vania Alleva)

60 Jahre hat es gedauert, bis den 88 Opfern der Katastrophe von Mattmark VS und ihren Angehörigen so etwas wie Gerechtigkeit widerfuhr. 60 lange Jahre bis zu einer offiziellen Entschuldigung. 60 Jahre und ganze drei Vorsprachen bei seinen Ratskollegen, bis Mathias Reynard, der Walliser Regierungspräsident, endlich sagen durfte:

Der Umgang mit dieser Tragödie war katastrophal. (…) Deshalb möchte ich im Namen der Walliser Regierung eine offizielle Entschuldigung aussprechen.

Und weiter: «Wir erkennen unsere Fehler an.»

Ignoranz und Gleichgültigkeit

Am 30. August 1965 hatte ein Abbruch des Allalingletschers 88 Menschen verschüttet, die meisten von ihnen stammten aus Italien. Sie hatten als Saisonniers beim Bau des Mattmark-Staudammes gearbeitet. Ihre Baracken standen direkt unter dem Gletscher, wo sie nie hätten gebaut werden dürfen. Weil schon längst bekannt war, dass der Allalingletscher gefährlich ist (work berichtete). Unia-Präsidentin Vania Alleva sagte an der Gedenkfeier:

Ignoranz, Gleichgültigkeit und Profitdenken haben zu dieser Katastrophe geführt, die nie hätte passieren dürfen.

Domenico Mesiano engagiert sich seit 20 Jahren für die Mattmark-Gedenkfeiern. Zurzeit ist er Präsident des Organisationskomitees. Über die historische Entschuldigung sagt er zu work:

Wir waren alle überrascht, mit einer Entschuldigung hatten wir nicht gerechnet.

Die rund 600 Menschen an der Gedenkfeier am Fusse des Staudamms seien aufgestanden, viele hatten Tränen in den Augen. Mesiano: «Der Schmerz ist noch da, aber die Entschuldigung ist eine Erleichterung.» 

Göttliche Ordnung

Einer der wenigen, die als Augenzeugen den tödlichen Abbruch überlebten, war Aloïs Hauser. SP-Staatsrat Reynard zitierte ihn in seiner Rede: «Alles geschah innerhalb von 20 Sekunden. Ich schaute auf die grosse Baustelle, die etwa 900 Meter unter mir lag. Plötzlich gab es einen furchtbaren Lärm, und ich sah, wie ein Teil des Gletschers abbrach. Die Arbeiter schienen nicht zu sehen, dass der Gletscher auf sie herabfiel. Wahrscheinlich wurde das Geräusch der Lawine für sie vom Lärm der Maschinen übertönt. Sie wurden unter den Eismassen begraben, ohne auch nur den Kopf zu heben, um zu sehen, was geschah.»

MUTIG: Regierungspräsident Mathias Reynard. (Foto: Keystone)

Menschliches Versagen war nicht mit dem Schweizer Selbstverständnis als eines technischen Vorzeigelandes vereinbar. Deshalb wurde die Tragöde vom ersten Tag an als unvorhersehbare Katastrophe, ja sogar als Teil einer göttlichen Ordnung deklariert. Deshalb gab es auch keine öffentliche Erinnerungskultur, ganz anders als in Italien (siehe Box unten). 

Zum Eis kam noch die Kälte der damaligen Behören hinzu, sagte Reynard. Auch das Gerichtsverfahren habe den Schmerz noch verstärkt. Der Prozess 1972, bei dem alle 17 Angeklagten freigesprochen wurden, weil der Abbruch nicht vorhersehbar gewesen sei. Und dazu noch die «schockierende und ungerechte Entscheidung, die Familien der Opfer zur Zahlung der Hälfte der Prozesskosten zu verurteilen». Kosten, die letztlich die italienische Botschaft in Bern beglich. Für Unia-Präsidentin Alleva zeigt dies exemplarisch die «zynisch eiskalte Haltung der Schweiz gegenüber den sogenannten Fremdarbeitern». Für die Gewerkschaften sei Mattmark ein Weckruf für eine neue Haltung gegenüber Migrantinnen und Migranten gewesen und der Ausgangspunkt für eine gewerkschaftliche Öffnung.

Gedenkfeier: Fake News à la Cassis

In Italien gibt es eine lebendige Erinnerung an die Tragödie von Mattmark. So liess denn auch Staatspräsident Sergio Matarella an den Feierlichkeiten eine offizielle Botschaft verlesen: «Die Geschichte unserer Auswanderung erzählt uns vom Engagement und den ­Opfern vieler Landsleute, die fern ihrer Heimat versucht haben, für sich und ihre Familien eine bessere Zukunft ­aufzubauen.» Die Würde des Menschen hänge vom Schutz der Arbeitnehmer und der ­Sicherheit ab, die allzu oft durch reine Profitlogik vernachlässigt würden. Allen Betroffenen drückte er «das Mitgefühl der ganzen Republik Italien aus». Und der Schweizer Bundesrat? Nichts, nada, niente. 

Keine Begründung

Domenico Mesiano, Präsident des Organisationskomitees der Feier, hatte auch den Bundesrat angefragt, ob er an der Gedenkfeier zu 60 Jahren Mattmark teilnehmen möchte. Immerhin ­einer der grössten Bau-Unfälle der jüngeren Schweizer Geschichte mit 88 Toten. Doch in einem dürren Schreiben lehnte Bundeskanzler Viktor Rossi die Einladung ab. Ohne Begründung. 

Umso erstaunter war Mesiano, als er am Tag der Gedenkfeier auf dem Facebook-Account von Aussenminister Ignazio Cassis las: «Ignazio Cassis ist hier: Mattmark, Saas Allmagel (!), Switzerland.» Darunter: «Heute gedenken wir gemeinsam den 56 italienischen Staatsbürgern (…), die bei der Tragödie Mattmark vor 60 Jahren ihr Leben verloren ­haben.» Dazu ein Bild der ­Gedenkstätte – aus einem früheren Jahr!

Zu work sagt Mesiano: «Ich weiss nicht, wo Cassis an diesem Morgen war, aber an der Gedenkfeier war er ganz sicher nicht.» Auf Anfrage wollte sich das Aussendepartement nicht darüber äussern, wieso Vorsteher Cassis den Eindruck erwecken wollte, an der Feier gewesen zu sein, und weshalb er ihr aber in Wirklichkeit fernblieb. Die alten Bilder der Gedenkstätte seien publiziert worden, um dem kollektiven Gedächtnis Rechnung zu tragen, durch die Integration von «historischen Rückblicken und Schwarz-Weiss-Archivbildern».

SOCIAL-MEDIA-BLENDER: Der Beitrag von Bundesrat Ignazio Cassis auf seinem Facebook-Profil. (Foto: Screenshot)

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