Vermögen-Verstecke für die Reichen – Offshore-Verliese für die Ärmsten
Die Sonderzonen des Kapitalismus

Zollfreilager und Privatstädte, Flaggen-Leasing und Pass-Verkauf, Freihandelszonen und Gefängnisinseln: Die schweizerisch-iranisch-kanadische Journalistin Atossa Araxia Abrahamian schildert in einem famosen Buch das Parallel-Universum der Superreichen.

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NAME IST PROGRAMM. Die Stadt Freeport auf den Bahamas ist gleichzeitig eine komplett steuerbefreite Sonderwirtschaftszone. Foto: Tyler Brebner.

Atossa Araxia Abrahamian wächst in Genf auf. Ihre Eltern sind iranische Staatsbürger mit armenischen und russischen Wurzeln und arbeiten bei der Uno. Schon als Kind spürt sie, dass etwas nicht stimmt mit dieser Stadt am See. Die vielen internationalen Organisationen mit ihren Duty-free-Shops. Die seltsame Selbstverständlichkeit, mit der UN-Mitarbeitende keine Parkbussen bezahlen und ihre jugendlichen Kinder den Polizisten einfach locker davonlaufen, wenn diese sie im Park beim Kiffen erwischen. Abrahamian schildert ihre Jugend in Genf als Leben in einer rechtlichen Enklave: einer Gesellschaft von Menschen, die alle paar Jahre weiterzogen – Konzernjuristen, Weltbank-Mitarbeiterinnen, WHO-Funktionäre. «Es gab keine Verwurzelung, keine Dauerhaftigkeit in der Gemeinschaft. Wir lebten in einer Enklave, die an einige Schweizer Gesetze gebunden, aber von anderen befreit war.»

Schattenwelt

Eine Kindheit im Ausnahmezustand. Doch jenes vage Unbehagen begriff Abrahamian erst Jahre später, als sie die globalen Sonderzonen journalistisch unter die Lupe nahm – und erkannte, dass Genf selbst einer ihrer Knotenpunkte ist. Dazu gehören die sprichwörtlichen Banktresore. Dazu gehört aber vor allem auch das Zollfreilager. Gegründet im Jahr 1849. Heute lagern hier in unauffälligen Bunkern im Industriequartier und beim Flughafen auf 110 000 Quadratmetern Milliardenwerte an Kunst, Gold und Diamanten. Für Abrahamian wird die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zum idealen Ausgangspunkt, die globalen Machtstrukturen der «Sonderzonen» zu entschlüsseln.

Sonderzonen

«Zollfreilager», «Freihäfen», «Sonderwirtschaftszonen» gibt es überall auf der Welt. Diese abgegrenzten Areale liegen oft in der Nähe von Flughäfen, Seehäfen oder Grenzübergängen und bestehen aus Lagerhallen, ganzen Stadtvierteln oder manchmal nur einer einzelnen Etage in einem Bürogebäude. Was allen gemeinsam ist: Waren aller Art können die Grenzen eines Landes passieren und einen Freihafen betreten, ohne juristisch gesehen «im Land» zu sein – und damit ohne Zölle oder andere Import- und Exportabgaben. Ebenso schnell können sie wieder verschwinden, fast spurlos. «Sonderzonen» sind aber auch private Städte für Superreiche – und Gefängnisinseln für Geflüchtete.

Männer & Money

Abrahamian porträtiert Männer, die an dieser Schattenwelt mitgebaut haben. Da ist Yves Bouvier, Genfer Kunstspediteur, der mit steuerfrei gelagerten Picassos und Rothkos ein Milliardenimperium aufbaute. Bis er sich mit dem russischen Oligarchen Dmitri Rybolowlew überwarf und dieser ihn geschäftlich in die Knie zwang. Oder zum Beispiel Marc Beer, Oxford-Anwalt und Spezialist für «portable Gerichtssysteme». In Dubai bastelte er ein extraterritoriales Rechtssystem zusammen: importierte Richter, importierte Gesetze, massgeschneidert für multinationale Konzerne. Das Modell exportierte er nach Kasachstan, wo Autokrat Nursultan Nasarbajew begeistert war von den Zusatzeinnahmen.

Freies Kapital …

Die gleichen juristischen Tricks, die Reichen ihre Steuerflucht ermöglichen, schaffen Zonen extremer Verletzlichkeit für die Ärmsten. Während britische Millionäre fiktive Wohnsitze in Singapur unterhalten, interniert Australien Flüchtlinge auf der Pazifikinsel Nauru. Bei Abrahamian wird die Geschichte Naurus zum Lehrbuch-Beispiel kapitalistischer Logik. Im Zuge der Industrialisierung beuteten Konzerne aus dem globalen Norden die Phosphatschätze der Insel aus. Ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung und schon gar nicht auf die Umwelt. Als das Phosphat erschöpft war, bot Australien einen neuen Deal an: Flüchtlingslager gegen Geld. Offshore-Knäste statt Rohstoff-Klau.

… gefangene Menschen

Abdul Aziz Muhamat aus dem Sudan erlebte diese Perfidie am eigenen Leib. 2013 suchte er Zuflucht vor politischer Verfolgung, wollte über Indonesien nach Neuseeland reisen. Unterwegs fing ihn die australische Marine ab und brachte ihn zur Weihnachtsinsel – einem australischen Territorium, das gleichzeitig nicht ganz zu Australien gehört. Von dort ging es weiter nach Manus, einer Insel in Papua-Neuguinea. Australien hatte bereits 2001 raffinierte Grenztricks entwickelt: Bestimmte Inseln wurden aus jenem Territorium «herausgeschnitten», in dem internationale Verträge zu Menschenrechten galten. Muhamat verbrachte seine Zwanziger in Haft – ohne Verbrechen und ohne Prozess. Auch Menschen wie ihm hat Abrahamian ein Kapitel gewidmet.

Kein Betriebsunfall

Abrahamians Buch ist randvoll mit Fakten und historischen Fallbeispielen, gewonnen in Archiven und auf Recherchereisen von Genf bis Spitzbergen, von Dubai bis Nauru, von der Weltbank bis zu namenlosen Lagerhallen voller Kunst und Edelmetallen. Dabei geht es um «Freeports» und «Charter Cities», um «Justiz nach Mass», ausgelagerte Flüchtlingslager und steuerbefreite Schattenökonomien. Abrahamian zeigt auch, wie systematisch Regierungen ihre Souveränität an das Kapital verkaufen. Weil sie wollen, und eben nicht, weil sie «ausgetrickst» werden, wie der Untertitel der deutschen Ausgabe leider fälschlicherweise suggeriert. Die «Sonderzonen» sind kein Betriebsunfall des Kapitalismus, sondern eines seiner bevorzugten Tummelfelder und Teil seiner Logik. Das alles und noch viel mehr hat Abrahamian spannend und gut lesbar aufgeschrieben.

Atossa Araxia Abrahamian, Schmutzige Geschäfte im Niemandsland, Wie globale Unternehmen und Superreiche unsere Regierungen austricksen, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main, 2025, 368 Seiten, ca. 33 Franken.

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