Lötschentaler Unia-Mann über die Bergsturz-Katastrophe:
«Zuerst haben wir die Blattner einfach nur umarmt»

Hab und Gut des Lötschentaler Unia-Mitglieds Adrian Rieder (54) blieb zwar unversehrt von der Bergsturz-Katastrophe. Dennoch hat «Blatten» sein Leben für immer verändert.

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Vor dem Bietschhorn steigt plötzlich eine Staubwolke auf. Obwohl der Bergsturz bereits mehr als ein Monat zurückliegt, ist der Berg immer noch täglich in Bewegung. Die Strasse nach Blatten ist ab der Bushaltestelle «Gsteinät» gesperrt. Ein junger Mann in Zivilschutz-Montur bewacht auf einem Plastikstuhl die Sperrzone, die hier am Rande der Gemeinde Wiler beginnt. An einem Brunnen ist eine grimmige Lötschentaler Maske in den Stein gemeisselt. Hier trifft work Adrian Rieder. Der gelernte Chemikant ist im Lötschental aufgewachsen, wohnt im Blattner Nachbardorf Wiler, arbeitet als Logistiker beim Pharma- und Biotechkonzern Lonza in Visp und ist seit 36 Jahren Mitglied der Unia.

Blick auf den Schuttkegel

Rieder sagt:

Wir wussten immer, dass dieser Gletscher instabil ist. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass das ganze Dorf verschüttet wird. Mein bisheriges Weltbild und die ganze Sicherheit sind weg.

Auch ein Monat nach dem Unglück befinde er sich noch in einer Schock- und Trauerphase. Rieder wohnt mit seiner Familie in einem Haus mit Sicht auf den Schuttkegel, der sich jetzt über Blatten und «d’weeschtu Mattä», die schönsten Wiesen des Tales, unten an der Lonza ausbreitet. 6 Millionen Kubikmeter Geröll und 3 Millionen Kubikmeter Gletschereis sind am 28. Mai auf die 300-Seelen-Gemeinde niedergedonnert. Mit 100 Lastwagen würde es etwa zehn Jahre dauern, bis der ganze Schutt weggeräumt wäre. Im Moment stellt sich jedoch eher die Frage, wie sich die Strasse reparieren lässt, so dass die hinterste Talgemeinde wieder erreichbar wird.

GANZ NAH: Von seinem Zuhause sieht Unia-Mitglied Adrian Rieder direkt auf das zerstörte Blatten. (Foto: jun)

Solidarität hautnah

Anders als die Blattnerinnen und Blattner ist Adrian Rieder nicht direkt von der Katastrophe betroffen. Trotzdem empfindet er einen grossen Schmerz. Er sagt: «In Blatten sind bis zu 600jährige Häuser zerstört und die Masken und Trachten von vielen Generationen unter dem Geröll begraben worden. Die «Tschäggättä» – diese typischen Holzmasken aus Blatten – die sind für immer weg.» Damit sich die Gesellschaft und die Kultur im Tal wieder entwickle, brauche es wohl Jahrzehnte. Auch das «Chider-Museum» (Müllmuseum), in dem der Historiker Werner Bellwald weggeworfene Gebrauchsgegenstände aus dem Lötschental sammelte, ist nur noch eine Erinnerung an eine vergangene Zeit.

Bei aller Trauer um das Dorf und die Kulturgüter hat Rieder nach dem Unglück aber etwas Erfreuliches erlebt, etwas das er in diesem Ausmass zuvor noch nie gesehen hatte: Die Solidarität! Rieder sagt: «In der ersten Woche haben wir die Blattner bei uns im Dorf einfach nur umarmt, es gab keine Worte, nur das Gefühl der Verbundenheit.» Und jetzt helfe man sich, wo immer es gehe.

Klimawandel unterschätzt

Für Adrian Rieder sind mit dem Bergsturz auch Fragen zu den Auswirkungen des Klimawandels in den Vordergrund getreten. Rieder sagt:

Für mich war immer klar, dass wir mit den fossilen Brennstoffen den Klimawandel antreiben. Aber ich hatte das Gefühl, dass wir im Lötschental weit weg von den Gefahren sind. Und jetzt war es plötzlich eins zu eins spürbar, mit einer Gewalt, die ich mir zuvor nie hätte vorstellen können.

Auch die Intensität der Gewitter beunruhigt Rieder: «Die Gewitter im Wallis und sonst in den Alpen werden immer stärker und die Murgänge immer katastrophaler.»

Fahrgemeinschaft nach Visp

Rieder schätzt daher, dass seine Arbeitgeberin sich um mehr Klimaschutz bemühe. So engagiere sich Lonza für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und ermutige die Mitarbeitenden, nicht mehr mit dem Auto zu pendeln. Für ihn persönlich sei das allerdings sehr schwierig: Mit dem Auto braucht Rieder eine halbe Stunde in die Fabrik. Mit dem öffentlichen Verkehr hingegen eine geschlagene Stunde. Das summiert sich. Rieder hat dennoch einen Weg gefunden, seinen ökologischen Fussabdruck zu verkleinern: Dank einer Fahrgemeinschaft ist er jetzt nur noch selten alleine im Auto unterwegs. Rieder sagt: «Jede und jeder einzelne kann etwas beitragen, aber schlussendlich müssen die Veränderungen auf politischer Ebene passieren.»

Und wie geht’s weiter?

Die meisten Einwohnerinnen und Einwohner von Blatten haben inzwischen eine neue Unterkunft im Tal gefunden. Einige leben oben auf der Lauchernalp in Zweit- und Ferienwohnungen und die Kinder gehen in Wiler zur Primarschule oder in Kippel in die Oberstufe. Doch die Zukunft ist ungewiss. Das Lötschental hatte bereits vor dem Unglück eine sehr tiefe Leerwohnungsquote von unter einem Prozent und war daher stark von Abwanderung betroffen. Rieder sagt:

Die Preise für die Wohnungen sind in den letzten Jahren explodiert und die Schaffung von neuem Wohnraum kostet heute viel mehr Geld und ist in kurzer Zeit gar nicht machbar.

Der Gemeindepräsident von Blatten, Matthias Bellwald, möchte trotzdem bereits in fünf Jahren neue Häuser bezugsbereit haben. Rieder sagt: «Bellwald macht einen Wahnsinnsjob, aber das wird schwierig! Ich hoffe einfach, dass alle Menschen aus Blatten irgendwann wieder ein neues Zuhause im Lötschental finden.»

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