Nach Dossierstau und Sonderschliessung jetzt auch Paragraphengewirr

Chaos pur im Walliser Migrationsamt

Jonas Komposch

Die Walliser Dienststelle für Bevölkerung und Migration verletzt systematisch die Rechte von ausländischen Arbeitnehmenden, sagt die Unia. Auch Unternehmer schlagen Alarm.

SIE BAUEN UND SERVIEREN, SOFERN DER AMTSSCHIMMEL SIE LÄSST: Ohne Arbeiterinnen und Arbeiter
aus dem Ausland ginge dem Wallis der Schnauf aus. (Fotos: Keystone (2) / Adobe STock (1) / montage: Ninotchka.ch)

Anfang September zog Sandra Tiano die Notbremse. Die Chefin der Walliser Dienststelle für Bevölkerung und Migration hatte nämlich realisiert: Die Abteilung «Aufenthalt und Niederlassung» war heillos überfordert, versunken in einem riesigen Dossierberg! Tiano befahl schweizweit Einmaliges: die fast totale Abkapselung der Abteilung von der Aussenwelt. Um fortan nur noch Pendenzen abzubauen. Telefonanrufe wurden nun glatt ignoriert, E-Mails nicht mehr beantwortet und Gemeinden angewiesen, sich nur noch in «äusserst dringenden Fällen» zu melden. Gerade mal ein Schalter blieb noch geöffnet. Volle drei Wochen dauerte das so. Dann die Meldung: Man habe aufgeräumt. Über 7000 Perso­nendossiers seien bearbeitet worden.

Die Unia begrüsste die «ungewöhnlich radikale Massnahme». Denn für etliche Mitglieder hatte der Dossierstau gravierende Konsequenzen.

Das Amt plagt Migrantinnen, missachtet Bundesgerichtsurteile und verstösst gegen internationale Abkommen.

OHNE BEWILLIGUNG GEHT NIX

Der Pendenzenberg bestand nämlich primär aus Gesuchen für eine Aufenthaltsbewilligung. Ohne ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter ginge der Wirtschaft bekanntlich sofort der Schnauf aus – im Grenz- und Tourismuskanton sowieso. Zugleich gilt: Ohne gültige Bewilligung ist das Arbeitsleben eine Qual. Der Oberwalliser Unia-Leiter Martin Dremelj erklärt: «Neuzugezogene finden keine Wohnung, können kein Bankkonto eröffnen und kein Auto kaufen. Auch Krankenversicherungen sind oft erst gültig, nachdem die Aufenthaltsbewilligung erteilt ist. Und gewisse Arbeitslosenkassen zahlen nichts, obwohl die Stellen­losen zum Bezug berechtigt wären.» Mit dem ­Abarbeiten allein war es aber nicht getan.

In einem Brief an Amtschefin Tiano mahnte Dremelj: Das Problem bestehe nicht nur aus langen Wartezeiten. Der Dienststelle fehle es auch an Kompetenz. Und speziell das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) werde «bewusst oder unbewusst ignoriert».

Dremelj gab ein Beispiel: EU-Bürgerinnen und -Bürger sind gemäss FZA zu einer Kurz- oder Aufenthaltsbewilligung berechtigt, wenn sie Ausweis plus Arbeitsvertrag vorweisen können. Doch Tianos Behörde verlange immer wieder zusätzliche Dokumente, obwohl das gegen das FZA verstosse. Für Dremelj ist klar: «Die Dienststelle verletzt nicht nur ein internationales Abkommen, sondern schafft sich auch noch unnötige Arbeit!» Das war vor vier Monaten. Nun hat die Unia an einer Medienkonferenz in Siders Bilanz gezogen – und ein vernichtendes Urteil gefällt.

GEGEN PERSONENFREIZÜGIGKEIT

Unia-Regionalchef Blaise Carron nahm kein Blatt vor den Mund: «Die Dienststelle befindet sich weiterhin auf Irrwegen!» sagte er sichtlich empört. Und: «Ihre angekündigten Massnahmen haben keinerlei Wirkung gezeigt.» Das Gegenteil sei der Fall: «Das Amt verstösst regelmässig gegen die Personenfreizügigkeit, das Ausländergesetz und missachtet wegweisende Bundesgerichtsentscheide.»

Belege dafür legte der extra von Zürich angereiste Rechtsanwalt und Professor für Migra­tionsrecht, Marc Spescha, auf den Tisch. Für die Walliser Unia betreut er immer wieder Fälle. Etwa jenen von Camilla Sánchez*. Die Spanierin besitzt eine Aufenthaltsbewilligung und lebt seit einer Weile mit Sohn und Ehemann im Wallis. Dieser kommt aus Lateinamerika, geniesst aber als Gatte einer EU-Bürgerin automatisch das Aufenthaltsrecht in der Schweiz. So steht es im ­Abkommen über die Personenfreizügigkeit. Im ­April 2022 stellen Vater und Sohn vorschriftsgemäss ein Gesuch für eine Aufenthaltsbewilligung – laut Spescha eigentlich ein Verwaltungsakt, der «innert 30 Minuten abzuwickeln wäre». Doch was folgt, ist ein zermürbendes Hin und Her.

JUSPROFESSOR: «EINMALIG!»

Mehrere Beamte sind involviert. Es braucht Gewerkschaft und Anwalt. Zeitweise herrscht beim Amt Funkstille, dann wird dem Klienten sogar ­illegaler Aufenthalt vorgeworfen. Spescha müht sich ab, liefert Paragraphen und Leiturteile, droht zuletzt sogar mit einer Beschwerde wegen Rechtsverweigerung. Vergebens. Auch nach 10 Monaten fehlt Vater und Sohn die Bewilligung. Spescha ist schockiert. Nicht in 20 Jahren Migrationsrechtspraxis habe er solche Beamtinnen und Beamten erlebt: «Wären sie Ausländer, würde man sagen, sie seien renitent!» empört sich der Professor. Ihre Rechtsunkenntnisse seien «gravierend». Die Folge: «absolut unzumutbare Behandlungsdauern» und «Verschleuderung von Steuergeldern». Bei Redaktionsschluss war auf die happigen Vorwürfe noch keine Erwiderung bekannt – auch nicht vom zuständigen FDP-Staatsrat Frédéric Favre. Im Kantonsparlament war die Problembehörde allerdings schon im November Thema.

PARLAMENT HAT’S VERPENNT

Der Visper Bauunternehmer und Mitte-Politiker Olivier Imboden hatte nämlich verlangt, die Dienststelle personell aufzustocken. Imboden sagte: «Es stimmt nicht, dass das Problem behoben ist. Die Wartezeiten betragen immer noch drei bis vier Monate. Das ist zu lang.» Auch warnte er, dass die Wintersaison zu einem Anstieg von Gesuchen führe. Da dürfe es nicht sein, dass «eine Bewilligung erst nach Saisonende eintrifft».

Eigentlich logisch – doch die Motion wurde abgelehnt, knapp zwar, aber pikanterweise dank einer parteiübergreifenden Opposition aus dem welschen Kantonsteil. Nur die SP war geschlossen für Imboden. Dieser erklärt: «Den Unterwallisern war nicht bewusst, dass das Problem noch besteht. Man liess sich von der Medienmitteilung des Amtes blenden.» Jetzt komme das Thema aber immer wieder ins Parlament. Tatsächlich wird voraussichtlich schon kommende Woche über einen verwandten und diesmal breit abgestützten Vorstoss diskutiert: Auch bei den Arbeitsbewilligungen sei das Verfahren eine Zumutung – für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Es brauche dringend mehr Effizienz.

*Name geändert

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