Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942) und Ella Maillart (1903 – 1997):
Unesco würdigt die Pionierinnen des Reisetagebuchs

Landschaften, Menschen, Abenteuer in einem Spiel aus Licht und Schatten: mit ihren Fotoreportagen revolutionierten Annemarie ­Schwarzenbach und Ella Maillart das bis dahin von Männern dominierte Genre des ­Reisetagebuchs. Die Unesco hat ihr Werk jetzt ins Weltdokumentenerbe aufgenommen.

ZWEI FRAUEN UND IHR FORD: Annemarie Schwarzenbach (l.) und Ella Maillart gehen auf grosse Reise. (Foto: Schweizerisches Literaturarchiv)

Es ist das Jahr 1939. In Europa tobt der Faschismus. Auch deshalb machen sich Annemarie Schwarzenbach und Ella Mail­lart auf den Weg. Ihr Ziel: Afghanistan. Ihr treuer Gefährte: ein Ford Roadster. Mit ihren Reiseberichten in den bedeutendsten Zeitungen und Illustrierten dringen sie tief in neues Territorium vor – ist doch das Genre des Reisetagebuchs den Männern vorbehalten. Die Reaktionen lassen nicht auf sich warten. Wie denn das gehe: «Zwei Frauen allein unterwegs!» Doch es geht – «ohne Boy und Chauffeur, ja sogar ohne Gen­tleman». «Wir besassen keine eisgekühlten Bierflaschen, keine Schusswaffen, wir verstanden kaum einige Brocken Persisch.»

Rebellin

EINE FRAU AUF REISEN: Annemarie Schwarzenbach mit ihrer Kamera.

Annemarie Schwarzenbach führte ein schillerndes bis tragisches Leben. Sie war Autorin, Journalistin, Fotografin, Historikerin mit Doktortitel. Morphinabhängig. Ikone der Lesbenbewegung. Rebellin gegen ihre schwerreiche Familie: die Mutter Nazifreundin, deren Vater wiederum General Ulrich Wille, der 1918 auf Arbeiter im Landesstreik schiessen liess. Ihr Cousin James Schwarzenbach, ebenfalls Nazifreund und geistiger Vater der zutiefst fremdenfeindlichen «Schwarzenbach-In­itiative». Schon als Kind rebellierte sie gegen Rollen-Normen: nannte sich Fritz, spielte mit ihrer Androgynität. Als Ausweg aus den familiären Zwängen heiratete sie den offen homosexuell lebenden Diplomaten Claude Clarac. Als Antifaschistin freundete sie sich mit Klaus Mann und seiner Schwester Erika an.

Freiheit suchte Annemarie Schwarzenbach auch im Reisen. Nebst ihrer Tour nach Afghanistan bereiste sie Russland, Nordafrika, die USA, Belgisch-Kongo – den Finger stets am Auslöser.

Freiheit suchte sie wohl auch im Morphin-Rausch. Ihr Leben endete bereits mit 34 Jahren, nach einem Sturz vom Velo. Doch schon vorher war sie angeschlagen – Drogenentzug, Depression, Suizidversuch, psychiatrische Klinik, Fehlbehandlung mit Elektroschocks. Lange war Annemarie Schwarzenbach vergessen. Erst 1987 entdeckte man zufällig ihren künstlerischen Nachlass in einem Schweizer Archiv.

Pionierin

Mit ihrer Freundin Ella Maillart aus Genf hatte sie vor allem das reiche Elternhaus gemein. Ansonsten war Maillart aus anderem Holz geschnitzt: Als begeisterte Sportlerin gründete sie bereits mit 16 Jahren den ersten Frauen-Feldhockeyverein in der Westschweiz. Mit einem Frauenteam segelte sie mehrmals über das Mittelmeer. Bei den Regatten der Olympischen Spiele in Paris 1924 war sie die einzige Frau und jüngste Athletin, die einen Einheitsklassensegler steuerte. Und sie vertrat die Schweiz bei den alpinen Skiweltmeisterschaften.

Die beiden Abenteurerinnen zeigen die Welt aus einer feministischen Perspektive. Immer auch aus einem sozialkritischen Winkel. Ihr Leben und ihr Schaffen zeugen von modernen, eigenwilligen Frauen und ihrem immensen Interesse für Menschen, Kulturen und Landschaften. Sie veranschaulichen Mut, Emanzipation und den unerschütterlichen Willen, Grenzen auszuloten, geographische und gesellschaftliche.

Jetzt hat die Unesco ihr Werk in das Register des Weltdokumentenerbes aufgenommen, dem «Memory of the World». Zeitgleich mit den Nachlässen von Charles Darwin, dem Begründer der Evolutionslehre, und dem Philosophen Friedrich Nietzsche sowie den Dokumenten der Genfer Konventionen.

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