Neues Buch über den «Schweizer Kapitalismus»
Wider die vielen Mythen des Chuchichäschtli-Kapitalismus

Mustergültig demokratisch und nachgerade klassenlos: So präsentiert sich die bürgerliche Schweiz gerne. Ein neues Buch zerlegt die Mythen mit Zahlen und Fakten.

MÄRLITRAM: Die herrschende Erzählung über die Schweiz sind die Erzählungen der Herrschenden. (Foto: VBZ)

Wenn es der sprichwörtlich grösste Trick des Teufels ist, die Menschen glauben zu machen, er existiere nicht, so ist es eine ebenso grosse List der Kapitalistenklasse, die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass sie nicht existiere. Und die Schweizer Herrschenden sind ganz besondere Meister darin, sich ganz besonders nicht-existent zu geben. Ein neuer Sammelband nimmt einen neuen und sehr gelungenen Anlauf, die Mythen dieses putzigen Chuchichäschtli-Kapitalismus zu entlarven.

Die Herausgeber Arman Spéth, Dominic Iten und Lukas Brügger bieten mit ihrer klug kuratierten Textsammlung eine kritische Gesamtschau auf die historischen Kontinuitäten und strukturellen Brüche der Schweiz, ihrer politischen Mythen und imperialen Verflechtungen.

Immer dabei

Das Buch gliedert sich in drei Teile: die historische und strukturelle Entwicklung des Schweizer Kapitalismus, seine sozialen Verhältnisse und die Rolle des Staates und der Öffentlichkeit. Den Auftakt macht Willi Eberle mit einer Entstehungsgeschichte des helvetischen Kapitalismus. Er zeigt, wie sich die Schweiz – ohne Kolonien, aber tief in koloniale Wirtschaftsstrukturen eingebettet – zu einem Standort entwickelte, der Gewinne international abschöpft, ohne im Inneren mit offensichtlicher Unterdrückung regieren zu müssen. Juri ­Auderset erweitert diese Perspektive um die ökologische Dimension. Wie sich diese Einbindung in die Weltwirtschaft auf die innere Dynamik auswirkt, analysieren Roland Herzog und Hans ­Schäppi anhand der Entwicklung der Profitrate – diesem Schlüsselkriterium marxistischer Krisentheorie.

Ausbeutung

Daran anschliessend erklären Spéth und Michael Graff die Internationalisierung der Schweizer Wirtschaft als Folge des strukturellen Wachstumszwangs des Kapitals. Dass die Grundlage dieses «Erfolgsmodells» zu einem erheblichen Teil aus unbezahlter oder schlechtbezahlter Betreuungs- und Pflegearbeit von Frauen besteht, legt Mascha Madörin dar. Anke Schaffartzik, Hanspeter Wieland und Christian Dorninger zeigen, wie die Schweiz Reichtum in Form von Ressourcen importiert, aber die ökologischen und sozialen Lasten ihrer Produktionsweise in den globalen Süden exportiert. Michael Roberts rundet diesen ersten Teil mit einer Analyse des Finanzplatzes Schweiz ab.

Wahre Menschen – Ware Mensch

Der zweite Teil ist den sozialen Strukturen gewidmet. Ueli Mäder legt dar, wie sich Ungleichheit in allen Lebensbereichen fortsetzt – Einkommen, Vermögen, Wohnen, Bildung. Hans Baumann und ­Robert Fluder zeigen auf, dass das Wachstum der Nachkriegszeit keine Umverteilung bewirkte, sondern Ungleichheit fortschrieb. In Gespräch mit den Herausgebern zeigen Stéphanie Ginalski und Matthieu Leimgruber die Macht und Vernetzung der Schweizer Eliten auf. Jacqueline Kalbermatter analysiert die Migrationspolitik als System zur gesellschaftlichen Kontrolle: Integration erscheint hier nicht als Ziel demokratischer Einbindung, sondern als arbeitsmarktpolitisches Instrument, das Überwachung statt Teilhabe organisiert. Kalbermatter spricht in diesem Kontext treffend von «Kontrolllücken» – strukturellen Leerstellen, die es Unternehmen erlauben, von migrantischer Arbeit zu profitieren, ohne sich mit den sozialen Kosten auseinandersetzen zu müssen.

Was tun?

Im dritten Teil wird das Verhältnis von Staat, Politik und Öffentlichkeit genau untersucht. Dominic Iten interpretiert die Schweizer Neutralität als geopolitische Strategie eines kleinen, wirtschaftlich ehrgeizigen Staates, der moralische Rhetorik mit praktischer Geschäftstüchtigkeit verbindet. Georg Kreis analysiert die Schweizer Beziehungen zum Apartheid-Regime Südafrikas. Die Rolle der Medien im neoliberalen Strukturwandel nehmen Lukas Brügger und Eugen Rieser unter die Lupe. Fazit: Die wirtschaftliche Verwertungslogik hat das kritische Potential der Medien weitgehend unwirksam gemacht. Den Abschluss des Buches und gleichzeitig ein Kernstück bildet das Gespräch mit dem Arzt, Aktivisten und ehemaligen Tessiner SP-Nationalrat Franco Cavalli. Cavalli macht deutlich, wie schwierig es für linke Kräfte ist, im schweizerischen Konkordanzsystem wirksam politisch zu intervenieren. Eine linke Strategie muss für Cavalli deshalb sowohl im als auch gegen den Staat operieren – mit dem Ziel, über parlamentarische Stellschrauben hinaus grundlegende Machtverhältnisse zu verändern. Oder anders gesagt: Die direkte Demokratie radikal zu demokratisieren.

Lesen!

Die Stärke des Bandes liegt in den gut lesbaren Beiträgen und der Verbindung von marxistischer Theorie, ökologischer Kritik und konkreter Empirie. Und darüber hinaus (und leider zunehmend selten): Das Buch ist auch optisch und haptisch überaus gelungen! work meint: absolute Leseempfehlung!

Arman Spéth, Dominic Iten, Lukas Brügger (Hg.): Schweizer Kapitalismus. Erfolgsmodell in der Krise, Mandelbaum Verlag, ISBN 978399136-518-1.

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