Faschismus-Forscherin Natascha Strobl (40) im Interview
«Wir erleben gerade eine Frühphase des Faschismus»

Trump, Orbán, Meloni & Co. bringen die Welt an den Rand des Wahnsinns. Und machen Rechtsextremismus mehrheits- und salonfähig. Wie konnte es so weit kommen? Die Analyse der Wiener Politikwissenschafterin Natascha Strobl. 

WISSENSCHAFTERIN NATASCHA STROBL: «Alle schauen nach Ungarn. Für Trump ist Ungarns Regierungschef Viktor Orbán das grosse Vorbild.» (Foto: LAIF)

work: Im September 2024 hat Österreich gewählt. Am meisten Stimmen erhielt die FPÖ unter dem rechtsextremen Parteichef Herbert Kickl. Im Januar 2025 schien es, als könnte er Kanzler werden. Frau Strobl, wie haben Sie diese bangen Tage erlebt?
Natascha Strobl: Es waren wirklich schlimme Tage. Dass Kickl dann nicht Kanzler wurde, ist natürlich gut. Aber ich habe so eine Stimmung noch nie erlebt. Viele Menschen haben sich gefragt: Wie lange kann ich hier noch bleiben? Was bedeutet das für meinen Job? Also hier in Österreich, in Wien? Die Leute haben sich gedacht, wenn ich jetzt still bin, dann schaffe ich es vielleicht noch, dass ich nicht in vorderster Reihe attackiert werde. Aber das hat tiefe Spuren hinterlassen. 

Welche? 
Dass Leute jetzt beginnen, ihre Arbeit mehr abzusichern. Sie machen sich Gedanken:

Was ist, wenn der Staat mein Feind wird? Was mache ich dann als Uni-Professorin? Was als Flüchtlingshelferin? Was als Gewerkschafterin? 

Nicht nur in Österreich sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch. Das passiert gerade in vielen Ländern weltweit. Wie werden rechtsextreme Parteien derart mehrheits- und salonfähig? 
Für mich der wichtigste Punkt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Wählen von rechtsextremen Parteien und dem Frust, den man im Leben verspürt, verbunden mit einem sehr negativen Zukunftsbild. Die rechtsextremen Akteure reichern diesen Frust an mit Themen wie Ausländer oder Transpersonen. Diese Kulturkampfthemen werden miteinander vermengt. 

Die rechtsextremen Parteien bedienen diesen Frust also sehr gezielt. Inwiefern spielen da die sozialen Medien eine Rolle? 
Die spielen eine ganz grosse Rolle. Die sozialen Medien sind ein zweiter Alltag. Den einen Alltag erleben wir auf der Arbeit, im Privatleben und in der Nachbarschaft. Den zweiten Alltag leben wir in den sozialen Medien, wo wir auch Nachbarn und Kolleginnen haben, die wir vielleicht jeden Tag sehen, auch wenn wir gar nicht wissen, wie die ausschauen. Dort gibt es Dynamiken, die schneller und intensiver funktionieren als in unserem ersten Alltag. 

Ausgezeichnet: Forschung zu Rechtsextremismus

Die Österreicherin Natascha Strobl (*1985) ist Politikwissenschafterin und Publizistin. Sie forscht zum Aufstieg des Rechtsextremismus. Ihr Buch «Radikalisierter Konservatismus» wurde 2021 zum Bestseller und mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnet. Strobl ist Mitglied der SPÖ.

Das haben die extremen Rechten schnell verstanden. 
Genau. Sie streuen gezielt Gerüchte, jedes für sich meist skurril. Doch in den sozialen Medien vervielfältigen sich auch die absurdesten Geschichten sehr schnell und über die ganze Welt. Dem realen Frust fügen sie nichtrealen hinzu. Und die Menschen kommen so in eine Spirale der Aufregung, die sehr anstrengend ist und die kaputtmacht. 

Sind diese Gerüchte Teil der rechten Verschwörungstheorien?
Ja. Zusammen ergeben sie eine grosse Erzählung, und darin geht es auch immer um eine Verschwörung, die sich gegen ihre Art zu leben richtet. Diese grosse Erzählung wiederum richtet sich gegen Themen wie das Gendern, das Impfen, den Klimaschutz. Und gegen die Grünen, Migranten, Frauen… 

Woher kommt denn dieser Frust?
Weil das Leben immer prekärer wird, immer schneller, immer anstrengender. Diese Erzählungen liefern eine Erklärung dafür, wieso sie sich schlecht fühlen. Deswegen fallen diese Erzählungen auf fruchtbaren Boden, obwohl sie oft komplett lächerlich sind. 

Das ist dann nicht mehr rational. 
Viele Menschen fühlen:

Endlich versteht jemand, dass es mir schlechtgeht. Endlich fasst jemand den Frust in Worte, den ich verspüre. 

Der zweite Alltag in den sozialen Medien kann auch von Gewalt geprägt sein. Sie sprechen von «digitalen Schlägertrupps». Was meinen Sie damit? 
Es gibt diese Mob-Dynamik, in der die Leute durch diese Gerüchte so aufgebracht sind, dass sie dieser Wut hemmungslos Ausdruck verleihen. Und es gibt Influencer, die den Scheinwerferkegel auf verschiedene Leute lenken und sagen, die sind schuld. Das sind oft Medienschaffende oder andere Influencer mit grosser Reichweite. Aber auch Wissenschafterinnen oder Politiker. 

Sie haben selbst schon digitale Gewalt erlebt. In welchem Zusammenhang? 
Ich habe es stark in der Coronazeit erlebt. Es geht darum, dass Leute sich sehr konkret überlegen, was sie dir antun wollen, und diese Nachrichten dann in die Welt schicken. Das Schlimmste ist natürlich, wenn sie sich ausmalen, was sie deiner Familie, den Kindern antun wollen. Inzwischen gibt es Studien, die zeigen, dass Gewalt in den sozialen Netzwerken tatsächlich physische Reaktionen auslöst. Und sie kann Menschen in den Suizid treiben.

Zurzeit schreiben Sie ein Buch über Faschismus. Hilft uns dieser Begriff zu verstehen, was momentan läuft? 
Ja. Aber Faschismus ist ein umkämpfter Begriff und ein bisschen ausgeleiert. Nicht jede autoritäre Entwicklung ist Faschismus, nicht jede Unannehmlichkeit ist Faschismus, auch nicht jeder kapitalistische Durchgriff ist Faschismus.

Wie definieren Sie denn Faschismus? 
Faschismus ist eine Ideologie. Und gleichzeitig eine Dynamik, die einsetzt als Reaktion auf eine Krise. Die Krisenbearbeitungsstrategie äussert sich in unbegrenzter Gewalt. Der Akteur des frühen Faschismus ist der Mob. Und dessen Gewalt kann sich gegen alle richten, die ihm gerade ins Visier geraten. 

Lässt sich der Begriff überhaupt aus seinem historischen Kontext lösen?
Wir haben oft diese Schwarzweissbilder von Deutschland 1940 im Kopf. Das ist nicht der Vergleich, den ich anstrebe. Der Vergleich, den ich anstrebe, ist die Entstehung des Faschismus als mehrheitsfähiger Zustand in der Gesellschaft:

Dieser Mob-Gedanke, dass Menschen in einer Demokratie leben, aber eigentlich in einem Teil ihres Alltags Gewalt ausüben – diese Frühphase des Faschismus erleben wir gerade.

Und es gibt Parallelen, die damals schon den Durchmarsch des Faschismus gefördert haben und dies auch heute tun. 

Zum Beispiel?
Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts hatten wir den Durchbruch der Moderne, das heisst Verwerfungen durch die Industrialisierung. Heute erleben wir die Digitalisierung, die zu ähnlichen Verwerfungen führt. 

Und was ist mit der enormen Ungleichheit? Das reichste Prozent ist unendlich viel reicher geworden, während die anderen hinterherdümpeln oder sogar ärmer werden.
Seit den 1980er Jahren, mit dem Durchbruch der neoliberalen Doktrin, nimmt die Ungleichheit wieder massiv zu. Die Lohnentwicklung hält nicht mit der Produktivitätsentwicklung Schritt. Die Vermögensverteilung driftet komplett auseinander. Gute Gesundheit ist ungleich verteilt, Lebenserwartung ist ungleich verteilt, Zeit ist ungleich verteilt. 

Was macht der aktuelle Einfluss der Rechtsextremen mit Demokratien wie Ungarn, der Slowakei oder den USA? 
Das ist ein Unterschied zum 20. Jahrhundert: Der Staat wird nicht mehr komplett zertrümmert und abgeschafft. Die Institutionen bleiben bestehen, aber sie funktionieren nicht mehr. Ungarische Abgeordnete haben mir gesagt:

Wir können nichts tun, es ist völlig egal, ob wir da sind oder nicht. Es gibt auch keinen Richter, der etwas tun kann, und es gibt keine Medien, die etwas tun können. Die Demokratie ist zur Hülle verkommen. 

Ist Ungarn also ein Vorbild für US-Präsident Trump?
Ja, alle schauen nach Ungarn. Für Trump ist Ungarns Regierungschef Viktor Orbán das grosse Vorbild. 

Das ist alles sehr schwer erträglich. Was haben die sozialdemokratischen Parteien dem entgegenzusetzen?
Es gibt zurzeit drei sozialdemokratische Ansätze. Der erste ist der Ansatz der Zugeständnisse: Er gibt den Rechtsextremen recht, was den Umgang mit Migration anlangt. In seiner extremen Form ist dieser Ansatz das Bündnis Sahra Wagenknecht in Deutschland. In seiner erfolgreichen Variante ist es der dänische Weg der Sozialdemokratie. Dieser zweite Ansatz impliziert, eine staatstragende Sozialdemokratie zu sein, eine Mittepartei, die sagt, es ist alles gut, wir bewahren und behalten. Das ist in Wahrheit ein konservativer Ansatz. Das macht auch die SPD in Deutschland. Und dann müsste es einen dritten Ansatz geben, den zum Beispiel die spanische Sozialdemokratie umsetzt. Sie sagen:

Wir verstehen euren Frust, aber wir leiten ihn solidarisch um und beginnen mit ganz grossen Umwälzungen: Wir senken die Arbeitszeit, wir erhöhen die Löhne, wir frieren die Mieten ein usw.

Was ich mit Sicherheit sagen kann: Der bewahrende, konservative Ansatz ist der sicherste Weg, irrelevant zu werden. Weil er den Frust überhaupt nicht abfängt, sondern Leuten, die frustriert sind, zu verstehen gibt, ihre Gefühle seien falsch. 

Und die Gewerkschaften? Welche Möglichkeiten sehen Sie da?
Die Gewerkschaften sind eine Schutzschicht der Demokratie. Sie sind eine der wenigen Formen von echter gesellschaftlicher Organisation, die wir noch haben. Alle Altersstufen aller Geschlechter, geographisch über das ganze Land verteilt, organisieren sich. 40 Jahre Neoliberalismus haben so viel zerstört an sozialen Bindungen, doch die Gewerkschaften gibt es noch. Und sie vertreten keine Partikularinteressen, sondern Mehrheitsinteressen.

Und was können wir alle jeden Tag tun? 
Ein einzelner Mensch kann nicht am grossen Hebel ziehen. Soziale Bindungen zurückholen ist das Beste, was wir alle machen können, dort, wo wir wohnen und arbeiten. Wie können wir uns solidarisch organisieren? Wir Menschen sind eigentlich sehr solidarische Wesen, Kooperation hat uns evolutiv genützt. In diesen vielen Krisen ist Kooperation die wichtigste Fähigkeit, die wir haben.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.