1. Mai: Seit 1891 der wandelbare Kampftag aller Arbeitenden

Von Bier-Gegnern, spanischer ­Militanz und Trachtenvereinen

Ralph Hug

Kein Jahr ohne 1.-Mai-Fest. Jedenfalls in der Schweiz: Seit 1890 wird hier der ­Kampftag der Arbeiterinnen-und Arbeiterbewegung ohne Ausnahme begangen. Sogar während der Corona-Epidemie, als Aufmärsche verboten ­waren. Aber der Tag hat viele Wandlungen erlebt.

BIER MACHT DICK, DUMM UND FAUL: So trat der sozialistische Abstinentenverein am 1. Mai 1912 in Zürich auf.(Foto: Sozialarchiv)

Es war ein Schuss ins Schwarze. Die ­aufstrebende Arbeiterbewegung sollte einen Gedenktag haben. Einen, der Mut macht, die eigene Stärke demonstriert und an dem erst noch Festfreude herrscht. 1890 wurde der 1. Mai in der Schweiz bereits in 34 Orten gefeiert – noch bevor er zum internationalen Kampftag erkoren war (siehe Box). Zwanzig Jahre später sind es bereits drei Mal so viele. In Zürich versammeln sich über zehntausend Teilnehmende. Und zwar nicht irgendwo in der Stadt. Sie ziehen vielmehr durch die Bahnhofstrasse, das Herz des Bürgertums und Inbegriff von Luxus und Reichtum.

MIT SCHLIPS UND SONNTAGSANZUG

Im November 1918 lässt der Bundesrat das unruhige Zürich militärisch besetzen. Die Arbeiterschaft antwortet mit dem Landesstreik, bricht diesen aber schon nach drei Tagen ab. Um einem Massaker durch die Armee zuvorzukommen. Doch schon fünf Monate später, am 1. Mai 1919, gehen in Zürich rund 50 000 Leute auf die Strasse. Mehr Demonstrierende gab es am Tag der Arbeit nie in der Schweiz. Der proletarische Kampftag ist nun fest eta­bliert. Auch der Klassenkampf. Doch nicht immer sah er gleich aus. Zu Beginn waren am Maifest strikte Ordnung, Disziplin und der Sonntagsanzug mit Schlips Trumpf. Besammlung, Zugsordnung und Marschroute waren bis ins Detail festgelegt. So zum Beispiel 1905 in St. Gallen: An der Spitze liefen die Tambouren vor dem Metallarbeiterverband, zuhinterst die Italiener. Vorgängig gab es für jede Sektion einen Appell in der Stammbeiz. Gestaffelt kündeten die Vereinsfahnen vom jeweiligen Handwerk, der Berufsstolz war unübersehbar. Fast wie bei den Zünften, nur dass auch die Frauen des Arbeiterinnenvereins mitlaufen durften. Parolen gab es noch keine, ausser einer einzigen Generalforderung: der 8-Stunden-Tag.

PERFEKTE KOMBI: Ein Mädchen in Tracht mit Unia-Fahne am 1.-Mai-Umzug in Bern. (Foto: Keystone)

SCHWEIZER FAHNEN GEGEN FASCHISMUS

Später wurden Kampfparolen aller Art auf Transparenten üblich. Das reichte von der ­Arbeitszeitverkürzung («Erkämpft den 7-Stunden-Tag!», 1930) über reine Verbandsanliegen («Über 1000 Maler fordern eine vertrauenswürdige Verwaltung der Ferienkasse», 1953) und den Appellen des sozialistischen Abstinentenvereins («Bier macht dick, dumm & faul!», 1912) bis zu den linksautonomen Parolen des Schwarzen Blocks («Smash Capitalism!»). Immer wieder dabei bis 1971: die Forderung nach dem Frauenstimmrecht.

Als in den 1930er Jahren im Norden und Süden der Faschismus drohte, waren an den Umzügen schon mal Schweizer Fahnen zu sehen, dies auf Empfehlung von SGB und SPS. Und auf Tafeln war 1939 zu lesen: «Wir Ar­beiter verteidigen die Unabhängigkeit der Schweiz». Vom Einfluss der geistigen Landesverteidigung blieb auch die Arbeiterbewegung nicht verschont. Der Wille, zur guten Gesellschaft zu gehören, führte nach dem Zweiten Weltkrieg sogar zu Kundgebungen mit Trachtengruppen und Ehrendamen, insbesondere auf dem Land. Dort war es besonders hart, als links zu gelten.

DER URSPRUNG DER «NACHDEMOS»

Eine Prise Militanz kam in den 1960er Jahren auf. Aber nicht von schweizerischen, sondern von spanischen Büezerinnen und Büezern. Sie liessen sich Nachdemos nicht nehmen, sogenannte Konsulatszüge: Man marschierte vors spanische Konsulat und prangerte dort regelmässig den Franco-Faschismus an. Weil die ­Polizei dagegen einschritt, kam es oft zu Scharmützeln und Handgreiflichkeiten. Die späteren Krawalle an den Nachdemos des Schwarzen Blocks haben hier ihre Wurzeln. Jedenfalls retteten die oft kommunistisch orientierten Leu-te aus dem Süden die 1.-Mai-Kundgebungen in den 1950er Jahren vor der Erstarrung ins Ritual des Immergleichen. Die Demos wurden wieder laut, vital und manchmal unberechenbar.

Dafür sorgten auch die Neulinken der 68er Bewegung. Mancherorts hatten die Gewerkschaftsbünde bereits auf Demos verzichtet und nur noch Platzkundgebungen unter Blasmusikklängen abgehalten. Abends folgte dann das Fest im abgeschirmten Saal unter Gleichgesinnten. Durch Vietnam-Demos gestählte Mitglieder der ausserparlamentarischen Opposition fanden dies zu lahm und brachten ihrerseits mehr Schub in die 1.-Mai-Komitees. Später füllten sich die Reihen am Tag der Arbeit mit allerlei Sozialbewegten, von der Anti-Apartheid- und der Anti-AKW- bis zur Frauenbewegung, von aufgeschlossenen Kirchenleuten bis zu den straff organisierten Gruppen aus Kurdistan. Sie alle liessen die Maikundgebungen um vieles bunter werden. Es ist das Patchwork der politisch Aktiven, das auch heute noch die Maifestivitäten dominiert.

Es begann in Chicago: «Der 8-Stunden-Tag muss her!»

Chicago war einst die Hochburg der Schlachthöfe. Am 1. Mai 1886 erschallt dort der Ruf: «Wir wollen den 8-Stunden-Tag!» Da die Fleischbosse nicht einlenken, kommt es zum Streik. Er endet in einer Strassenschlacht mit der Polizei. Und einem monströsen Prozess: Sieben anarchistische Arbeiterführer werden gleich zum Tode verurteilt. Das Gedenken an diesen blutigen Kampf ist der Ursprung der 1.-Mai-Kundgebungen in aller Welt. Die Zweite Internationale erklärte 1891 das Datum zum internationalen Kampftag. Ein Erfolg: Kein ­anderes Fest wird seither so weltumspannend gefeiert.


Weitere Artikel zum Thema:

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.