Verdi-Chef Frank Werneke (56) im grossen work-Interview

«SPD und Grüne lassen sich am Nasenring durch die Manege ziehen»

Jonas Komposch

Streiks, Zukunftsängste und Massendemonstrationen gegen rechts – im «grossen Kanton» brodelt’s heftig. Das spürt auch Verdi, die zweitgrösste Gewerkschaft Deutschlands. Ihr Vorsitzender Frank Werneke erklärt im Interview, was die Ampelkoalition unter Kanzler Scholz falsch macht und warum Verdi ein Rekordwachstum verzeichnet.

REDET TACHELES: Verdi-Chef Frank Werneke spricht über Deutschlands marode Infrastruktur, den mickrigen Mindestlohn und den Aufstieg der AfD. (Foto: Thomas Pirot/Zeit Online/laif)

work: Herr Werneke, Sie kommen gerade von einer Streikversammlung bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Wie war die Stimmung?
Frank Werneke: Die Kolleginnen und Kollegen sind sehr entschlossen. In Berlin fährt kein einziger Bus und keine U-Bahn. Wir haben null Streikbrecher! Der öffentliche Verkehr liegt komplett still. Und morgen geht es bereits weiter (Anm. d. Red.: Das Interview wurde am 29. Februar geführt. Der Warnstreik endete nach zwei Tagen. Eine Einigung wurde bis heute noch nicht erzielt.). Es handelt sich ja um eine bundesweite Bewegung. Und wir beobachten eine enorme Entschlossenheit. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir am Ende erfolgreich sein werden.

Sie verlangen unter anderem längere Ruhezeiten, mehr Entlastungstage und kürzere Arbeitstage. Laufen die deutschen Nahverkehrsangestellten wirklich derart am Limit?
Wir haben in Deutschland rund 90’000 Beschäftigte im Nahverkehr. In den nächsten Jahren müssen mehrere Zehntausend Arbeitsplätze neu besetzt werden. Da steht ein richtiger Generationswechsel an! Doch schon jetzt sind viele Arbeitsplätze nicht zu besetzen. Gerade die Arbeit als Busfahrer ist eine enorm herausfordernde Tätigkeit. Es gibt immer mehr Stress mit Fahrgästen. Ohne die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Tätigkeit attraktiver zu machen, geht es schlicht nicht. Das müssten eigentlich auch die Arbeitgeber erkennen. Doch noch gestalten sich die Verhandlungen schwierig.

LAHMGELEGT: Der öffentliche Verkehr in Berlin stand zwei Tage still. (Foto: Keystone)

Dafür haben Sie die Klimajugend von «Fridays for Future» an Ihrer Seite. Was bringt diese Unterstützung konkret?
Zeitgleich zu unserem Verkehrsstreik findet ja auch ein Klimastreik statt. Diese Parallelität ist kein Zufall. Entsprechend gross ist die Empörung in wirtschaftsnahen Kreisen und ihren Publikationen, die beklagen, wir würden Streiks für politische Zwecke missbrauchen. Wir versuchen aber immer in Bündnissen zu arbeiten, mit Sozialverbänden, kirchlichen Akteuren und seit längerem auch mit der Klimabewegung. Gerade haben wir zusammen 150’000 Unterschriften für eine Verkehrswende gesammelt. Der Nahverkehr muss nicht nur erhalten, sondern auch ausgebaut werden – gerade im ländlichen Raum. Denn im Vergleich zur Schweiz ist bei uns das überstädtische Verkehrssystem geradezu unterentwickelt. Und damit für viele Menschen schlicht keine Alternative zum Auto.

Der Verkehr ist ja nur ein Dauerthema unter vielen in Deutschland. Wie geht es den Menschen zurzeit?
Es herrscht Verunsicherung und Gereiztheit. Wir erleben eine Aneinanderreihung von Krisen: Corona, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die gestiegenen Energiekosten, die hohe Inflation, den Aufstieg der AfD als rechter Kraft. Auch die wirtschaftliche Konjunktur ist nicht gut. Hinzu kommt die grosse Anzahl von Geflüchteten, etwa aus der Ukraine, was rein von der Zahl her eine Herausforderung ist – insbesondere für die Kommunen, die von der Bundesregierung zu wenig unterstützt werden. Das alles führt zu einer unguten Stimmung. Auch bei unseren Mitgliedern. Es gibt Abstiegs- und Zukunftsängste. Und gerade in dieser Situation trägt die Bundesregierung ihre Zerstrittenheit auf offener Bühne aus.

Sie haben die Bundesregierung ja wiederholt heftig kritisiert, auch die SPD, in der Sie selbst Mitglied sind. Was macht die Ampelkoalition so falsch?
Die SPD und die Grünen lassen sich zurzeit von der eigenen Koalitionspartnerin, der FDP, am Nasenring durch die Manege ziehen. Und das obwohl die Liberalen derzeit in Meinungsumfragen unter 5 Prozent liegen. Es ist die FDP, die de facto die politischen Entscheidungen prägt.

Zum Beispiel?
Am ärgerlichsten ist die Lage in der Steuer- und Finanzpolitik. Wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts fallen jetzt bestimmte Fondsreserven weg, die zur ökosozialen Transformation der Wirtschaft geplant waren. Also etwa zum Wasserstoffnetzausbau oder zum Ausbau der Fernverkehrs-Trassen. Jetzt versucht die FDP, diese Transformationsaufgaben in den Regelhaushalt zu pressen. Wir reden da über hohe zweistellige Milliardenbeträge.

KRITIKER DER BUNDESREGIERUNG: Verdi-Chef Frank Werneke geht auch mit seiner eigenen Partei, der SPD, hart ins Gericht. (Foto: Keystone)

Heisst Sparübungen im öffentlichen Bereich?
Im grossen Stil! Unter Druck kommt alles, was uns wichtig ist: insbesondere der Ausbau des Nahverkehrs oder die Sanierung der öffentlichen Gebäude. Wir haben ja mittlerweile vielfach extrem marode Krankenhäuser. Oder Schulen in zum Teil beschämendem und baulich desaströsem Zustand. Deutschlands öffentliche Infrastruktur geht zusehends vor die Hunde!

Und das wird von SPD und Grünen einfach hingenommen?
Ich sehe zumindest keinen Widerstand. Wobei die deutsche Investitionspolitik ja auch eingeschränkt wird durch das Neuverschuldungsverbot in der Verfassung. Diese Schuldenbremse kann unter bestimmten Umständen zwar ausgesetzt werden. Doch dafür bräuchte es auch die FDP – und die sagt zu allem immer Nein.

Derweil wächst die AfD anscheinend unaufhaltsam …
Unaufhaltsam – das sehe ich so nicht. Die Partei ist ja phasenweise auch schwächer geworden, etwa bei den letzten Bundestagswahlen, bei verschiedenen Landtagswahlen oder nach den breiten Protesten. Es stimmt, dass sie derzeit auf relativ hohem Niveau verharrt. Gemäss aktuellen Umfragen würden fast 20 Prozent der Deutschen AfD wählen. Dieser Wert erklärt sich allerdings nicht allein durch den harten ausländerfeindlichen Kern, den es auch in unserem Land gibt. Da kommt ein zusätzliches Moment dazu, das Gefühl der Ohnmacht und die Proteststimmung. Daher spielt es eine grosse Rolle, welche politischen Entscheidungen getroffen werden.

Eine Regierungsentscheidung war ja auch, den nationalen Mindestlohn bei aktuell 12,41 Euro festzusetzen. Kann man damit überhaupt leben?
Es ist vollkommen ausgeschlossen, mit diesem Lohn in einer deutschen Grossstadt eine Wohnung zu halten. Die Mindestlohnempfänger sind deshalb auf Wohngeldzuschüsse der Kommunen angewiesen. Und ganz grundsätzlich lassen sich damit keine grossen Sprünge machen. Ein Ausflug in die teure Schweiz etwa ist sicher nicht drin. Ich möchte aber festhalten, dass die EU-Mindestlohnrichtlinie besagt, dass die Mitgliedstaaten ihren Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianlohnes ansetzen sollen. Das wäre in Deutschland aktuell etwas mehr als 14 Euro!

KEIN LOHN ZUM LEBEN: Den Mindestlohn von knapp über 12 Euro, den Bundeskanzler Olaf Scholz im Wahlkampf versprochen hatte, wurde zwar eingeführt. Verdi-Chef Werneke moniert aber, dass die Regierung damit nicht einmal die Mindestlohnrichtlinie der EU erfüllt. (Foto: Keystone)

Die Ampelkoalition hält sich also nicht an die EU-Mindestlohnrichtlinie. Was sind die Folgen davon?
Das hängt von der Region ab. In den Grenzregionen Baden-Württemberg und Bayern ist die Zahl der Mindestlohnempfänger zum Beispiel eher klein. In Ostdeutschland dagegen ist fast die Hälfte aller Erwerbstätigen im Mindestlohnbereich und ist nicht durch Tarifverträge geschützt. Die schlechte Entwicklung des Mindestlohns trotz hoher Inflation ist zweifellos einer der Gründe für die verbreitete Politikunzufriedenheit in diesen Regionen.

Womit wir schon wieder bei der AfD sind: Nach dem aufgeflogenen Geheimtreffen von AfDlern und anderen Rechtsextremen in Potsdam kam es in ganz Deutschland zu Massendemonstrationen. Auch Sie waren auf der Strasse. Welche Bedeutung haben diese Proteste?
Positiv war und ist – die Proteste dauern nämlich fort –, dass sie nicht nur in den Grossstädten stattfinden. Sondern auch in ländlichen Regionen, in denen die AfD stark verwurzelt ist, wo es also Mut braucht, sich zu exponieren. Das zeigt, dass sich jetzt breite Teile der Bevölkerung aufmachen, Leute, die noch nie zuvor demonstriert haben. Die «Correctiv»-Enthüllungen über das Treffen in dieser Potsdamer Villa haben wirklich eingeschlagen. An diesem Treffen wurden schliesslich Pläne geschmiedet zur Massendeportation von Menschen mit Migrationsgeschichte! Heute hat aber jedermann Arbeitskollegen oder Nachbarinnen mit Migrationsgeschichte. Das gilt für Deutschland wie für die Schweiz. Und die Vorstellung, dass diese Mitmenschen nun von irgendwelchem rechten Pack vertrieben werden sollen, das hat für breite Empörung gesorgt.

MASSENBEWEGUNG: Hunderttausende versammelten sich im Februar in München zu einem Lichtermeer gegen Rechtsextremismus, Rassismus und die AfD. (Foto: Keystone)

Wird sich diese Empörung auch auf die Europawahlen vom Juni auswirken?
Das ist noch nicht ausgemacht. In Berlin hatten wir ja in der Hochphase der Proteste eine Teilwiederholung der Wahlen zum Bundestag. Das hat der AfD überhaupt nicht geschadet. Sie hat ihre Ergebnisse sogar leicht verbessert. Andererseits gibt es auch Umfragen, nach denen die Werte der Partei leicht sinken. Wir werden sehen. Vorgegeben ist weder die eine noch die andere Richtung. Für uns heisst das: Wir sind gefordert – und zwar langfristig. Es gibt ja auch in Österreich und der Schweiz seit langem rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien. Und die gehen nicht mit einem Mal weg. Sondern es braucht die tägliche Auseinandersetzung.

Und wie geht Verdi mit der AfD um?
Für uns gibt es in keinster Weise eine Zusammenarbeit mit der AfD. Wir laden die nicht an Veranstaltungen ein und boykottieren umgekehrt die Veranstaltungen von ihnen. Wenn sie Gesetzesentwürfe einbringen, ignorieren wir diese. Diese Haltung ruft auch Widerspruch hervor, es gibt immer wieder Austritte wegen dieser klaren Positionierung.

Insgesamt aber ist Verdi noch nie so stark gewachsen wie 2023. Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Wir haben tatsächlich rund 190’000 Neuaufnahmen gemacht und sind netto um über 40’000 Mitglieder gewachsen – auf aktuell rund 1,9 Millionen Mitglieder. Dieses Wachstum steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem besonders intensiven Streikjahr 2023. Wir hatten keinen einzigen Tag, an dem nicht irgendwo ein Arbeitskampf lief!

VERDI ERREICHT DIE MASSEN: Frank Werneke spricht letzten Dezember in Düsseldorf zu einer Menschenmenge. Gemeinsam mit anderen Gewerkschaften ruft Verdi zum Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu einem landesweiten Warnstreik auf. (Foto: Keystone)

Eine Folge der hohen Inflation?
Nicht nur. Es ist auch dem Zufall des Tarifkalenders geschuldet. Im letzten Jahr liefen alle grossen Tarifverträge aus: der komplette öffentliche Dienst, der Handel, die Post und vieles mehr waren betroffen. Aber klar, wegen der Inflation war ordentlich Druck auf dem Kessel. Und die Streikbeteiligung war so hoch wie noch nie. Entsprechend konnten wir in unseren Abschlüssen durchschnittlich etwa 12 Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von 24 Monaten erzielen.

Besonders bei der Jugend konnten Sie punkten. Wie das?
Das freut mich ganz besonders. Von den 190’000 Neumitgliedern sind über 50’000 unter 28 Jahre alt. Die Jungen sprechen wir also überproportional gut an. Das ist kein Zufall. Wir haben neue Wege beschritten und die Beteiligungsmöglichkeiten ausgebaut – etwa über grosse Videokonferenzen. Auch haben wir eine separate Jugendtarifkampagne mit eigenen Verhandlungskommissionen und eigenen Jugendstreiktagen, die speziell die Ausbildungsstätten in den Fokus nehmen. Zudem haben wir die Präsenz in den sozialen Medien massiv ausgebaut.

Schaut man aber länger zurück, trübt sich das Bild. Seit der Verdi-Gründung 2001 ist die Basis um etwa 1 Million Mitglieder geschrumpft. Was haben Sie falsch gemacht?
Wie in allen Grossorganisationen ist auch bei uns die Altersstruktur von Babyboomern geprägt. Wir haben viele Mitglieder, die in Rente gehen. Und wir haben es etliche Jahre lang nicht geschafft, diese Abgänge durch genügend neue Mitglieder zu kompensieren. Umso erfreulicher ist die Bilanz der vergangenen Jahre. Hohe Mitgliederverluste hat es insbesondere in den Nullerjahren gegeben. Es waren wirtschaftlich extrem schwierige Zeiten, Stichwort Agenda 2010. Unsere Tarifpolitik in jenen Jahren war nicht wirklich erfolgreich, das hat unsere Mitgliederentwicklung damals schwer beeinträchtigt. Die gute Botschaft: Anders als in den Nullerjahren, als es gerade in der jüngeren Generation viele Vorbehalte und eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den Gewerkschaften gab, strömt uns heute Aufgeschlossenheit und Neugier entgegen.


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