Roth Gerüste AG schummelt und bockt bei Krankentaggeldern

Gerüstbauer erkämpft sich über 12’000 Franken

Sylviane Herranz*

Gerüstbauer Pietro muss mehrere Jahre auf Geld warten, das ihm Branchenführer Roth Gerüste AG schuldet. Während einer Krankheitsphase hatte ihm Roth weniger bezahlt, als ihm eigentlich zustand. Brisant: Von dieser illegalen Praxis dürften noch viel mehr Büezerinnen und Büezer betroffen sein.

ERFOLG VOR GERICHT: Ein Gerüstbauer der Firma Roth Gerüste erhielt von seinem Arbeitgeber zu wenig Geld. Gemeinsam mit der Unia ging er dagegen juristisch vor. (Symbolfoto: Thierry Porchet)

Pietro*, ein Gerüstbauer aus dem Kanton Waadt, sah sich plötzlich in seiner Existenz bedroht. Es war im Februar 2020, als er krankheitsbedingt mehrere Monate nicht mehr arbeiten konnte. Er wusste: Die Krankentaggelder deckten nicht seinen gesamten Lohnausfall ab. Aber als er, der zuvor etwas mehr als 4000 Franken netto verdiente, von seinem Arbeitgeber nur noch weniger als 3000 Franken erhielt, traf ihn fast der Schlag. Mit so wenig Geld würde er niemals über die Runden kommen.

Als sich seine finanzielle Lage zuspitzte und er nicht mehr weiterwusste, wandte sich Unia-Mitglied Pietro an die Unia und fand bei Jean-Michel Bruyat, der in Lausanne für das Baugewerbe zuständig ist, die nötige Hilfe. Bruyat studierte die Lohnabrechnungen und stellte fest, dass die Roth Gerüste AG ihrem erkrankten Büezer zu wenig bezahlt hatte. Konkret hat das Unternehmen Pietros* Bruttolohn um 20 Prozent gekürzt und Sozialabgaben abgezogen, was beim Bezug von Krankentaggeldern nicht der Fall sein sollte. Übrigens: Für Jean-Michel Bruyat war dies nicht die erste Konfrontation mit Roth Gerüste. Bereits 2019 musste er beim Schweizer Branchenführer Geld für einen verunfallten Büezer einfordern.

PIETRO FEHLTEN 12’000 FRANKEN

Doch zurück zum aktuellen Fall: Gewerkschaftssekretär Bruyat wandte sich an die Erwerbsausfallversicherung (EO), um zu erfahren, wie hoch das Taggeld des zu diesem Zeitpunkt immer noch arbeitsunfähigen Pietro sein sollte und welche Zahlungen an das Unternehmen geleistet wurden. Wie im früheren Fall stellte er eine Differenz fest zwischen dem vom Unternehmen gezahlten Lohn und dem, was der Gerüstbauer als Krankentaggeld hätte erhalten müssen.

NICHT DAS ERSTE MAL: Bereits vor dem Fall Pietro musste die Unia bei Roth Gerüste Geld für einen verunfallten Gerüstbauer einfordern. (Foto: Keystone)

Die Rechnung ergab Folgendes: Pietro erhielt über den gesamten Zeitraum seiner Krankheit, nämlich 10,5 Monate, insgesamt 7666 Franken an Krankentaggeldern zu wenig ausbezahlt. Ihm fehlten pro Monat also 730 Franken. Hinzu kamen noch ein Teil des Februargehalts, verschiedene Spesen und der Restbetrag für den 13. Monatslohn. Insgesamt schuldete das Unternehmen Roth Gerüste dem erkrankten Büezer mehr als 12’000 Franken.

GERICHTE GEBEN DEM BÜEZER RECHT

Nach einer Mahnung an das Unternehmen erhielt Pietro fast 11’000 Franken zurück. Roth Gerüste versuchte also erneut zu tricksen. Doch der Büezer und die Unia wollten den geschuldeten Restbetrag von 1100 Franken nicht kampflos aufgeben und zogen vors Arbeitsgericht. Mit Erfolg. Das Gericht gab Pietro jetzt recht und verpflichtete den Arbeitgeber dazu, die geschuldete Summe sofort zu zahlen und die Kosten des Verfahrens zu übernehmen.

Ende gut, alles gut? Nein, Roth Gerüste zog das Urteil weiter an die nächste Instanz. Und verlor erneut. Es war mittlerweile Mai 2023, als auch das Kantonsgericht feststellte, dass «der ausbezahlte Lohn niedriger war als die Summe, die die Roth Gerüste AG selbst vom Lohnausfallversicherer erhalten hatte». Das Urteil wurde rechtskräftig, da die Gerüstbau-Bude das Verfahren nicht weiterzog.

WO BLEIBT DAS GELD?

Doch trotz zwei juristischen Niederlagen bockt das Unternehmen weiter. Bis heute wartet Pietro auf sein Geld. «Wir mussten Roth Gerüste betreiben! Sie haben Rechtsvorschlag erhoben, und jetzt müssen wir die Rechtsöffnung verlangen, damit sie zahlen, und das alles auf Kosten des Arbeitnehmers, um die Gesamtsumme von 2700 Franken einzutreiben», erklärt Gewerkschafter Jean-Michel Bruyat. Und ergänzt wütend, dass es «unglaublich» sei, dass ein Büezer fast vier Jahre auf sein Geld warten muss.

Bruyat wendet sich zudem mit einem Appell an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in eine solche Lage geraten: Es sei wichtig, dass sie ihre Gehaltsabrechnungen genau studieren. Der Gewerkschaftssekretär vermutet, dass ein solch unrechtmässiges Vorgehen der Arbeitgeber weitverbreitet sei. Er erzählt von einem weiteren Fall, den er aufgedeckt hat. Der Hygienedienstleister Elis Suisse hatte einem erkrankten Arbeitnehmer, der sechs Monate ausfiel, insgesamt 2750 Franken zu wenig ausbezahlt. Auch dieser Fall landete vor dem Arbeitsgericht, und auch hier erhielt der Büezer recht.

Roth Gerüste AG liess die Fragen der Gewerkschaftszeitung unbeantwortet.

* Name geändert


Die Tipps des Gewerkschaftssekretärs

Jean-Michel Bruyat. (Foto: Thierry Porchet)

Jean-Michel Bruyat, worauf müssen verunfallte oder erkrankte Arbeitnehmende besonders achten?
Sie sollten ihre Lohnabrechnung genau studieren. Diese sind manchmal schwer verständlich, und das nutzen Unternehmen zu ihrem Vorteil. Wichtig ist etwa, dass der Arbeitgeber nicht einfach den Bruttolohn kürzen kann. Denn das Krankentaggeld wird auf Grundlage des Lohnes berechnet, der in den letzten zwölf Monaten vor der Erkrankung oder des Unfalls ausbezahlt wurde. Dazu gehören auch Überstunden, Gratifikationen und natürlich der 13. Monatslohn. Aus diesem Gesamtbetrag wird das in den Versicherungsverträgen vorgesehene Taggeld von 80 Prozent berechnet. Wichtig sind auch die Sozialversicherungsbeiträge. Bei einer Krankheit oder einem Unfall dürfen diese nicht abgezogen werden. Der BVG-Beitrag hingegen kann weiterhin bezahlt werden – aber auf freiwilliger Basis.

Wie sollten Büezerinnen und Büezer vorgehen, wenn sie vermuten, dass auf ihrer Lohnabrechnung etwas nicht stimmt?
Unia-Mitglieder können sich an ihr nächstgelegenes Gewerkschaftssekretariat wenden und einen Termin in der Sprechstunde vereinbaren, um eine Beurteilung des Falles zu verlangen.

Wie lässt sich verhindern, dass das Geld, das den Arbeitnehmenden zusteht, in den Kassen des Unternehmens verschwindet?
Zunächst braucht es Lohnabrechnungen, auf denen sämtliche Leistungen klar aufgeführt sind, was heute nicht immer der Fall ist. Zudem sollten Lohnersatzleistungen, wie etwa Krankentaggelder, von der Versicherung direkt an den Arbeitnehmenden ausbezahlt werden – ausser natürlich während der Wartezeit, in der Arbeitgeber verpflichtet sind, weiter den Lohn zu zahlen. Das würde verhindern, dass im Falle eines Konkurses kranke oder verunfallte Arbeitnehmende ohne einen Rappen dastehen. Es ist unanständig, wenn Lohnabhängige mit einem guten Job, einem GAV und einer Lohnausfallversicherung ins Elend gestürzt werden, weil sie krank sind oder einen Unfall hatten.

Welche Bilanz ziehen Sie aus dem Fall Pietro?
Der erste Fall, den wir bei Roth Gerüste aufgedeckt hatten, hätte dazu führen müssen, dass die Art und Weise der Auszahlung von Entschädigungen im Unternehmen überprüft wird. Wir stellen fest, dass sie ihre Praxis nicht geändert haben und sich bis heute weigern, Pietro die restlichen paar hundert Franken auszuzahlen. Das ist böswillig! Es ist erschreckend, dass ein Unternehmen wie Roth Gerüste, das aufgrund seiner Grösse mit gutem Beispiel vorangehen sollte, sich dermassen querstellt. Was steckt dahinter? Vielleicht eine Menge Geld! Dieses Beispiel und der Fall bei Elis unterstreichen, dass es möglich ist, dass andere Unternehmen, auch in anderen Branchen, die gleiche Praxis anwenden. Es ist wichtig, dass die Gewerkschaften und ihre Mitglieder sich dessen bewusst sind.

* Dieser Artikel ist zuerst in der Westschweizer Unia-Zeitung «L’Événement syndical» erschienen. Zum Originalbeitrag.


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