Frankreich: Künstliche ­Belebung einer Dinosaurier-Technik

Atomstrom, mon amour!

Oliver Fahrni

Atomstrom ist die neue Obsession des französischen Präsidenten Macron. Er will die Welt mit AKW überziehen. Für den Klimaschutz, wie er sagt. Doch dahinter steckt ein gigantischer Raubzug.

AUF RAUBZUG: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die Stromversorgung komplett privatisieren. Sein Drängen, möglichst schnell möglichst viele Atomreaktoren hinzuklotzen, ist Teil dieser Taktik. (Foto: Keystone (2) / Adobe Stock (3) / Montage: work)

Eigentlich müsste dieses AKW schon seit Jahren Strom liefern. Doch Hinkley Point C an der Südwestküste Englands geht bestenfalls 2030 ans Netz. Wenn überhaupt. Ursprünglich sollte es 16 Milliarden Euro kosten. Nun werden es 53 Milliarden, umgerechnet rund 50 Milliarden Franken. Das meldete kürzlich der französische Stromversorger Electricité de France (EDF), der das Werk baut.

Was sich da gerade zur industriellen Katastrophe auswächst, war als Schaufenster französischer Atomtechnik gedacht. Denn in Hinkley Point will der Stromversorger zwei «neuartige», sogenannte EPR-Reaktoren installieren. Die seien sicherer, billiger, zuverlässiger als herkömmliche AKW, wirbt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Eine strahlende Lösung für den rasch wachsenden Stromkonsum, den E-Autos, Digitalisierung und künstliche Intelligenz mit sich bringen.

Doch es ist eher ein Desaster mit Ansage, nicht nur ökonomisch. Thomas Piquemal, der Finanzchef von Electricité de France, hatte im März 2016 geräuschvoll den Hut genommen: Es sei falsch, ungezählte Milliarden «in eine Technik zu stecken, von der man nicht weiss, ob sie überhaupt funktioniert». Atomingenieure und Gewerkschaften unterstützten ihn. Doch Macron, damals Wirtschaftsminister, wischte die Warnung vom Tisch.

VOLLES RISIKO IN FLAMANVILLE

Acht Jahre später wissen wir: Piquemal hatte recht. Im kommenden Juli geht in Flamanville an der Kanalküste der bisher einzige EPR-Reaktor Frankreichs in Testbetrieb, mit 12 Jahren Verspätung. Flamanville liegt neben der Wiederaufbereitungsanlage von La Hague, wo auch der Schweizer Atommüll verarbeitet wird – und wo Frankreich bombenfähiges Plutonium für seine Atomwaffen gewinnt.

Beim Bau des Reaktors traten ungezählte Sicherheitsprobleme auf. Niemand weiss, ob sie gelöst sind. Die Atom-Sicherheitsbehörde fügte sich nur murrend dem Druck der Regierung: Electricité de France trage nun allein das Risiko. Wohl eher die Bevölkerung. Ungemütlich.

Dennoch befahl Präsident Ma­cron dem Stromkonzern, insgesamt bis zu 14 dieser Atomreaktoren zu bauen. 6 davon sollen nun «schnell» hingeklotzt und der Bau von 8 weiteren «geprüft» werden. Dafür erliess er ein «Beschleunigungsgsetz», ernannte einen Einpeitscher, unterstellte die Atomenergie der Verteidigung und nahm die Atomaufsicht an die Kandare – dagegen rufen die Gewerkschaften nun zum Streik. Doch diese 14 EPR-Reaktoren sind erst der Anfang. Macron will die ganze Welt mit seinen Atomöfen überziehen. Sie sollen sein Lebenswerk werden.

Eigentlich ist die Atomenergie spätestens seit der Katastrophe von Fukushima (2011) tot. Das Kapital hatte sich weitgehend aus ihr zurückgezogen. Verschiedene Länder, etwa Deutschland und die Schweiz, hatten den Atomausstieg beschlossen. Die Atomlobby war abgetaucht. Noch 2022 interessierten sich allein Atomwaffenmächte für AKW – und solche, die es werden möchten. Die 430 AKW weltweit produzieren heute gerade noch 9 Prozent des Stroms. Weniger als vor 30 Jahren. Sonnenenergie- und Windanlagen hingegen schon mehr als 15 Prozent – und dies bereits zum halben Preis des Atomstroms, wie im Januar dem Bericht «The World Nu­clear Industry» zu entnehmen war.

JURASSIC ATOM

Auf Teufel komm raus will Macron die Dinosauriertechnik jetzt wiederbeleben. Sein Mantra: Nur mit Atomstrom lasse sich die Klima-Apokalypse abwenden.

Doch daran ist, auch abgesehen von den Risiken solcher Atomkraftwerke und vom unlösbaren Müllproblem, fast alles falsch. Die AKW kämen zu spät: Denn um auch nur einen Drittel des künftigen Strombedarfs zu decken (was allein noch ungenügend wäre), müssten in kürzester Zeit an die tausend neue AKW hochgezogen werden. Zu pharaonischen Kosten (etliche Billionen), die jede realistische (und einfachere) Eindämmung der Klimaüberhitzung und jede bessere Form der Energiegewinnung töten müssten.

Ausserdem sind AKW Teil des Problems. Sie ertragen Hitze und Trockenheit nicht. Der Betrieb verbraucht gigantische Mengen von Wasser. Im Hitzesommer 2022 fielen 60 Prozent der 57 französischen Atomanlagen aus.

Trotzdem tat Macrons Totschlag­argument seine Wirkung. Vermutlich, weil es dem perversen Glauben schmeichelt, das Weltklimaproblem lasse sich mit technischen Gadgets billig lösen. So presste der Präsident dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz die Zusage ab, Atomkraft auf die EU-Liste «grüner» Energieformen zu setzen. Seither wagen die Grünen Frankreichs und Deutschlands kaum noch Widerrede. Darauf krochen die Atomlobbyisten wieder aus ihren Löchern, auch in der Schweiz (siehe Box). Sie erwecken den (falschen) Eindruck eines neuen AKW-Booms.

DER GROSSE RAUBZUG

Was aber treibt Macron wirklich an? Als scharfer Neoliberaler versucht er schon länger, die Stromversorgung als Service public zu zerschlagen. Strom brauchen alle, also kann man die Verbraucher auspressen. In Händen von Konzernen wirft das kolossale Profite ab. Die Strommarktliberalisierung der EU hat die Preisspekulation entfesselt. Nur wollen die Neoliberalen mehr. Ein erster Versuch, Electricité de France vollständig zu privatisieren, scheiterte am Widerstand der Gewerkschaften.

Jetzt macht es Macron andersrum: Er bürdete dem Stromkonzern mit diversen Tricks hohe Milliardenverluste auf. Auch die 14 künftigen EPR-Reaktoren soll der Stromversorger finanzieren. Wird die Schuldenlast zu riesig, kann der Präsident die Electricité de France zerschlagen und die Filetstücke den Konzernen zuhalten. Besonders die mit öffentlichem Geld gebauten AKW, deren Profite dann die Konzerne mästen – ein enormer Raubzug.

Im Hintergrund steht der Deal bereits: So liess der Ölkonzern Total (21,4 Milliarden Gewinn im Jahr 2023) verlauten, er werde gerne ein paar der neuen Reaktoren übernehmen. Natürlich nur, um dem Klima zu helfen.

Eine Liste von Atomunfällen finden Sie hier.

Initiative: Mit einer Täuschungs-Taktik

Veteranen der Schweizer Atomlobby, wie der entnervte Milliardärs-Clan ­Aegerter (Energie Club Schweiz), ­machen mobil, im Verbund mit Rechtsaussengruppen wie der Jungen SVP: Sie wollen schnell viele neue AKW bauen, grosse wie kleine. Dafür müssen sie den Volksentscheid zum Ausstieg aus der Atomwirtschaft von 2017 umstürzen.

Energiewende Bremsen. Unter Einsatz von viel Geld haben sie jetzt eine Initiative eingereicht. Täuschender ­Titel: «Blackout stoppen». Sollte ­heute überhaupt ein Blackout drohen, dann durch das Fiasko der Atomenergie. Auch sie nutzen das Argument Klimawandel. Doch was sie publizieren, enthüllt, dass es ihnen genau um das Gegenteil geht: die Energiewende in der Schweiz auszubremsen.


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1 Kommentar

  1. Peter

    Schade nur, dass der Artikel den 3. EPR Reaktor verschweigt, welcher in Olkiluoto (Fin) seit 2023 zuverlässig Energie liefert und somit die Energieabhängigkeit Finnlands von Russland zu reduzieren hilft.

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