Riesiger AKW-Park:

Frankreich im Atomwahn

Oliver Fahrni

Foto: Keystone

Neulich in einer Marseiller Quartierapotheke: «Haben Sie Jodtabletten?» – «Wir sind ausverkauft. Machen Sie sich Sorgen wegen der Ukraine?» – «Nein, im Fernsehen sagen sie, Radioaktivität sei aus einem AKW ausgetreten, 140 Kilometer nördlich von hier. Bei diesem Wind ist die Wolke in zwei Stunden bei uns.» – «Aber Sie wissen schon, dass die Panne vor 10 Tagen geschah?»

Immer mehr Französinnen und Franzosen misstrauen der Atomindus­trie, dem Stolz der Nation, mit 56 Atomkraftwerken und einer Wiederaufbereitungsanlage am Ärmelkanal, wo auch Plutonium für die französischen Atomwaffen extrahiert wird. Allein für den Monat Juli listete ein Gewerschafter des Stromversorgers Electricité de France (EDF) 21 Zwischenfälle in französischen Kraftwerken auf. 32 AKW stehen derzeit wegen Wartung und Reparaturen still.

In 12 AKW jüngerer Bauart wurden jüngst Korrosionen und Risse im Notkühlsystem entdeckt. Brandgefährlich. Seither macht sich in den Teppichetagen Panik breit. Denn niemand weiss, woher die Risse kommen und wie viele Kraftwerke davon betroffen sind. Ein industrielles Desaster droht. Präsident Emmanuel Macron aber macht Druck, die AKW zum Winter hin wieder hochzufahren. Wie sicher wird das sein?

Solche Zweifel sind Macrons Sache nicht, Fukushima ist lange her, und ihn treiben handfeste wirtschaftliche Interessen an. 6 bis 14 Atomkraftwerke des neuen Typs EPR will der Präsident bauen lassen. Er ist in Eile. Ist das Monsterprogramm, das eine Viertelbillion Franken kosten dürfte, erst einmal aufgegleist, sind nichtfossile Energieformen für Jahrzehnte blockiert. Macrons Freunde in Beton, Öl und Finanz freut’s.

AUSBAU STATT ABBAU. Bei den erneuerbaren Energien hängt Frankreich zurück, obschon es sich mit 3400 Kilometern Küsten, dem windigen Rhonetal und den sonnigen Südalpen aus Wind-, Gezeiten- und Solarenergie versorgen könnte. Vor allem weiss niemand, wie die EDF das monströse EPR-Programm stemmen sollte. Bei bisherigen Versuchen, EPR zu bauen, verdreifachte sich die Bauzeit, und die Kosten explodierten. Der Stromkonzern EDF, zu 84 Prozent in Staatsbesitz, ist hochverschuldet und fährt Milliardenverluste ein. Dafür ist auch der Strompreisdeckel verantwortlich. Der Preis, so hat Macron dekretiert, darf maximal um 4 Prozent steigen. Doch weil der Strommarkt dereguliert wurde, muss die EDF ihren privaten Konkurrenten, die selber keinen Strom erzeugen, aber mit Strom handeln, den Saft zu einem festen, tiefen Preis abgeben. Derzeit kommt die Megawattstunde auf 257 Euro zu stehen, weitergeben muss die EDF sie für nur 46 Euro. So wird der Preisdeckel zur Quelle von Extraprofiten für Konzerne.

Der Präsident will die EDF nun zu 100 Prozent übernehmen. Linke anderswo träumen von der Verstaatlichung der Stromversorgung, weil Strom ein Gemeingut sein müsste. Doch hinter Ma­crons «Verstaatlichung» steckt ein tückischer Plan namens «Herkules», wie ein EDF-Kader von der Gewerkschaft SUD enthüllt: «Mit Steuergeldern wird der Atompark ausgebaut. Dann zerschlägt Macron die EDF, trennt die Stromproduktion von der Stromverteilung, die privatisiert wird.» Ein klassisches Manöver der Neoliberalen: Die Verluste werden sozialisiert, die Gewinne privatisiert. In den Worten des Gewerkschafters: «Der Hold-up des Jahrhunderts.»

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