AHV-Gegner rechnen sich Alte reich

Reiche Rentnerinnen? Von wegen!

Clemens Studer

Die Schweizer Rentnerinnen und Rentner leben bis auf ­wenige Ausnahmen in Saus und Braus. Behaupten die Gegnerinnen und Gegner der Initiative für eine 13. AHV-Rente. Das ist zynisch und falsch.

VERGOLDET: So absurd ist das Bild der AHV x 13-Gegnerinnen und -Gegner über Reichtum im Alter. (Symbolbild: 123RF)

SGB-Präsident und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard ist viel unterwegs. Und er redet mit den Menschen. Er weiss, wo sie der Schuh drückt. Zum Beispiel die Pflegerin, die bis 64 gearbeitet und zwei Kinder allein grossgezogen hat. Sie muss umziehen und sich damit abfinden, eine Einzimmerwohnung zu suchen, weil sie sich eine Zweizimmerwohnung nicht leisten kann. Oder der Maschinenmechaniker, der 45 Jahre Vollzeit in der Schweiz gearbeitet hat und der nicht hierbleiben kann, um seinen Ruhestand in der Nähe seiner Kinder und Enkelkinder zu verbringen. Seine und die Rente seiner Frau werden nicht reichen, die Fixkosten in der Schweiz zu bezahlen. Oder die Rentnerin aus einem Freiburger Dorf, die abwechselnd nur jenes Zimmer mit einem Elektroöfeli heizt, in dem sie sich aufhält. Sie hat es sich nicht leisten können, den Öltank vor dem Winter auffüllen zu lassen.

Ähnlich Beispiele kennen wohl alle, die nicht völlig abgehoben in der Welt des reichsten Prozents leben. Und diese Berichte aus dem richtigen Leben provozieren die AHV-Gegnerinnen und -Gegner. Sie haben ihnen nichts entgegenzusetzen ausser «Schaut selbst, wie ihr zurechtkommt». Und zynisch rechnen sie sich die Rentnerinnen und Rentner reich. Vorne mit dabei die NZZ, das Blatt der Finanzindustrie.

AUTO DES JAHRES: OPEL AMPERA

Gönnerhaft empfiehlt der NZZ-Autor den Gewerkschaftern «hard facts». Und verweist auf die Studie: «Die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung im Erwerbs- und Rentenalter» des Genfer Professors Philippe Wanner. Die Studie hat für die NZZ einen grossen Vorteil: sie schreibt in der Tendenz die Seniorinnen und Senioren reich. Und sie hat etliche Haken: das Datenmaterial stammt aus weniger als der Hälfte der Kantone. Und vor allem: aus den Jahren 2011 bis 2015.

Zum Vergleich: 2011 war der Opel Ampera «Schweizer Auto des Jahres», der russische Präsident hielt die Eröffnungsrede am WEF, und der durchschnittliche Umwandlungssatz in der Pensionskasse für einen 65 Jahre alten Mann lag bei 6,74 Prozent. 2022, als die von der NZZ gehypte Studie veröffentlicht wurde, lag er bei 5,43 Prozent. Das bedeutet konkret: Ein 65jähriger Mann mit einem Altersguthaben von 500 000 Franken bekam beim Erscheinen der Studie bereits 6500 Franken weniger Rente aus der Pensionskasse pro Jahr, macht ein Loch im Portemonnaie von über 540 Franken pro Monat. Der durchschnittliche Mietzins in der Schweiz für eine Zweizimmerwohnung stieg in der gleichen Zeit von 1000 Franken auf 1111 Franken. Die durchschnittliche Krankenkassenprämie lag 2011 bei 250.42 Franken, im laufenden Jahr sind es 359.50 Franken. Pensionskassenrenten werden nicht – beziehungsweise nur in extrem seltenen Fällen – an die Teuerung angepasst.

«AUSWEGSLOSE ARMUT»

Im gleichen Jahr wie die Wanner-Studie erschien der «Altersmonitor» von Pro Senectute. Auch in Zusammenarbeit mit der Universität Genf. Aber mit aktuellen Zahlen. Er zeigt: In der Schweiz lebten 2022 über 200 000 Rentnerinnen und Rentner mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Das sind fast 14 Prozent – gegenüber 6 Prozent in der erwerbstätigen Bevölkerung. Weitere rund 100 000 Menschen im Rentenalter standen an der Schwelle zur Armut. Jede fünfte Person im Seniorenalter ist arm oder kurz vor dem Abrutschen in die Armut.

Viele Menschen im Rentenalter haben schlicht keine Möglichkeit, ein ungenügendes Einkommen zu kompensieren. Darunter fallen auch Menschen, die sich ein kleines Haus erarbeitet haben, das sie auf dem Papier zu «reichen» macht. Einerseits erhalten sie unter Umständen deswegen keine Ergänzungsleistungen. Andererseits können sie das Haus nicht einfach zu Geld machen. Und abgesehen von den Belastungen, die ein Umzug im Alter mit sich bringt, ist es meist unmöglich, eine Wohnung zu finden, die weniger kostet als das Eigenheim.
Laut Bundesamt für Statistik haben fast 16 Prozent der über 65jährigen keine substantiellen finanziellen Reserven, und 11 Prozent haben nicht genug Geld, um eine unvorhergesehene Ausgabe von 2000 Franken zu stemmen. Die Studie von Pro Senectute schätzt die Zahl der Personen, die sich in «auswegloser Armut» befinden und über keinerlei Ersparnisse oder Vermögen verfügen, auf fast 50 000.

«IMMER ENGER»

Seit dem Erscheinen des Altersmonitors von Pro Senectute hat sich die Lage für die Seniorinnen und Senioren weiter zugespitzt. Die kombinierten Renten der ersten und zweiten Säule übersteigen im Schnitt kaum noch 3500 Franken, während das Mediangehalt bei rund 6600 Franken liegt. Die Teuerung, der starke Anstieg der Krankenkassenprämien und die Erhöhung der Mieten seit 2020 alleine kosten eine ganze Monatsrente. Alleinstehende haben rund 3500 Franken weniger zum Leben. Bei den Ehepaaren sind es jährlich mehr als 6000 Franken weniger.

Das macht sich auf den Beratungsstellen der Pro Senectute bemerkbar. So ist alleine im Kanton Aargau die Zahl der Beratungen im vergangenen Jahr um 30 Prozent gestiegen. Pro-Senectute-Geschäftsleitungsmitglied Ruth Treier sagte zum «SRF-Regionaljournal»: «Die Teuerung, die steigenden Mieten und die steigenden Nebenkosten führen dazu, dass es für immer mehr Menschen immer enger wird.» So eng, dass sie um Nothilfe bitten müssen: auch hier haben die Gesuche um einen Drittel zugenommen. Hauptproblem sind Heiz- und Stromkosten. Und da schliesst sich der Kreis zur Freiburger Rentnerin, deren Erwähnung durch SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard die NZZ so provoziert.

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