Wirtschaftskommission pfeift auf die Warnung der Kantone

Rechte wollen mit Start-up-Trick das Arbeitsgesetz aushebeln

Clemens Studer

Der neuste Angriff auf das ­Arbeitsgesetz geht selbst ­stockkonservativen ­Kantonen zu weit. Doch die rechte ­Mehrheit der nationalrätlichen ­Wirtschaftskommission hält an ihrem faulen Start-up-Trick fest.

SCHUTZLOS: Rechte Politiker wollen unter fadenscheinigen Begründungen das Arbeitsgesetz bodigen.
Das würde auch die Rechte der Coiffeusen beschneiden. (Foto: Keystone)

Arbeiterschutz ärgert die Arbeitgeber seit den ersten Versuchen, diesen gesetzlich festzulegen. Jeder Schutz der Lohnabhängigen vor Überausbeutung schmälert ihren Profit. In früheren Jahrzehnten verteidigten sie Kinderarbeit (unter 14 Jahren), wehrten sich unter anderem gegen die Einführung des 11-Stunden-Tages (6 × die Woche) und gegen die Haftung für arbeitsbedingte körperliche Schädigungen. Seither versuchen sie, ihre Deregulierung als Anpassung an die gesellschaftliche Realität zu verkaufen.

SCHÖNGEFÖHNT

Arbeitgeberverbände, ihre Think-Thanks und ihre Politikerinnen und Politiker ziehen das Arbeitsgesetz als «Fabrikgesetz» ins Lächerliche. Weit weg sei man heute von den Zeiten der ­Industrialisierung, die moderne Gesellschaft brauche ein modernes Arbeitsgesetz. Was sie dabei «vergessen» zu sagen: ihre «Modernität» ist der alte Manchester-Kapitalismus, also der Inbegriff von Ausbeutung und Profitgier – schöngeföhnt als «Vereinbarkeit von Familie und Beruf» und «Anpassung an die digitale Welt». Denn so wie die einzige SVP-Antwort auf alle Fragen «die Ausländer sind schuld» lautet, haben auch marktradikale Ideologen auf alle Herausforderungen immer die gleiche Antwort: Arbeitsbedingungen verschlechtern, Arbeitszeiten verlängern.

Sie wollen, dass die Lohnabhängigen länger arbeiten pro Woche (bis 70 Stunden) und länger pro Jahr (weniger Ferien). Selbstverständlich alles total «flexibel», einzig nach den Bedürfnissen der Chefs – also mit Nacht- und Sonntagsarbeit, ohne Überzeitbegrenzung und ohne Erfassung der Arbeitszeit. Und am liebsten – wenn sie schon dabei sind – zu weniger Lohn.

UNVERBESSERLICH

Wer solche Pläne hegt, den stört ein halbwegs wirksames Arbeitsgesetz natürlich. Selbst ein tendenziell schwaches wie das schweizerische. Die Arbeitszeiten und die Intensität der Arbeit in der Schweiz sind im internationalen Vergleich schon heute sehr hoch. Nötig wären ­deshalb eigentlich mehr Schutz, nicht weniger. Untersuchungen zeigen, dass in der Schweiz krankmachende Arbeitsbedingungen zunehmen – und zwar in fast allen Branchen.
Doch das kümmert die Ideologen der Arbeitgeberverbände nicht wirklich. Sie lassen im Bundesparlament unverdrossen Angriff um Angriff auf den Arbeitnehmendenschutz reiten. Mal wollen sie quasi die halbe arbeitstätige Bevölkerung zu «Kader-Mitarbeitenden» machen, um die Arbeitszeiterfassung zu umgehen. Mal dient eine «Energiemangellage» als Vorwand, um das Arbeitsgesetz auszuhebeln.

UNVERFROREN

Neustes Beispiel für die Unverfroren- und Verbissenheit, mit der bürgerliche Politikerinnen und Politiker im Auftrag der Arbeitgeber-Ideologen das Arbeitsgesetz aushebeln wollen: Die Wirtschaftskommission des Nationalrats will das Arbeitsgesetz für alle neugegründeten Firmen während 5 Jahren ausser Kraft setzen. Und das kam so: 1996 – im Jahr, nachdem die Wahlen eine SVP-FDP-Mehrheit im Nationalrat gebracht hatten – reichte der St. Galler FDP-Nationalrat Marcel Dobler einen Vorstoss zur «Start-up-Förderung» ein. Im langen parlamentarischen Prozess stellte sich – wenig überraschend – heraus, dass der Begriff «Start-up» juristisch nicht zu definieren ist. Also, so dachte sich die rechte Mehrheit der Wirtschaftskommission – ebenfalls wenig überraschend –, machen wir das doch gleich für alle neugegründeten Firmen. Konkret: Gesetzliche Ruhezeiten, Arbeitszeiterfassung und Sonntagsarbeitsverbot sollen für neugegründete Unternehmen während 5 Jahren nicht mehr gelten.

GEWERKSCHAFT NIDWALDEN

Vor einigen Monaten schickte die Kommission ihre Revision in die Vernehmlassung bei Kantonen, Städten und Verbänden. Die Opposition ist breit. Selbst so rechtsrechte Kantonsregierungen wie jene der Kantone Thurgau und Schwyz wurden in der Vernehmlassung überaus deutlich: In der Praxis würden nicht die vorgeschobenen Tech-Milliardäre in spe ungeschützt vom Arbeitsgesetz arbeiten, sondern Coiffeusen, Reinigungsleute, Servicepersonal, Verkäuferinnen und Verkäufer. Und die Nidwaldner Kantonsregierung hält fest: «Die Revision hebelt unseres Erachtens den Arbeitnehmerschutz komplett aus und birgt eine grosse Missbrauchsgefahr.» Deutlicher haben es auch die Gewerkschaften nicht auf den Punkt gebracht.

Doch trotz der breiten Opposition bringt die rechte Mehrheit der Kommission den Vorschlag unverändert in das Plenum. Wenn nicht noch wenigstens bei Teilen der Mitte Vernunft einkehrt, ist ein breit abgestütztes Referendum sicher.

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