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Gewerkschaften sind unter Druck und machen Druck

Ralph Hug

Kein Land in Europa ohne ­Gewerkschaften. Aber wie zwäg sind sie im neoliberalen Zeitalter? Danach fragt eine ­umfassende ­wissenschaftliche Studie. Die Bilanz fällt ­differenziert aus.

GUTES BEISPIEL: In Deutschland konnte sich Verdi als vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft positionieren. Auch die Unia hat gezeigt, dass ein Zusammenschluss stärken kann. (Foto: Keystone)

Seit vierzig Jahren stehen die Gewerkschaften unter Druck. Weil ganz Europa auf einen neoliberalen Kurs eingeschwenkt ist: Liberalisierung, Sparprogramme, Sozialabbau. Dies habe den gewerkschaftlichen Spielraum stark eingeschränkt, heisst es in der voluminösen Studie «Trade Unions in the European Union». Die Gewerkschaften müssen kämpfen. Aber wie tun sie das? Diese Frage steht im Zentrum dieser wissenschaftlichen Untersuchung.

NEUE BASISARBEIT

Auf mehr als tausend Seiten breitet die Studie ein faszinierendes Panorama der Gewerkschaftswelt in 27 EU-Ländern aus. Sie hat nur einen Haken: In der in Englisch verfassten Studie ist die Schweiz nicht dabei, weil sie kein EU­Mitglied ist. Aber das tut dem Wert der Analysen keinen Abbruch. Für sämtliche Staaten von Kroatien bis Griechenland, von Finnland bis Zypern, von Rumänien bis Portugal lässt sich nachlesen, wie sich die Gewerkschaften entwickelt haben, wo sie stehen und welche Ziele sie aktuell verfolgen.

Eine markante Wende ist die Strategie vieler Gewerkschaften, Leute in schlechter bezahlten oder prekären Jobs zu organisieren.

Allen ist heute klar, dass sie sich erneuern müssen, um aus der Defensive herauszukommen. Ein Zauberwort lautet Organizing. Eine Methode aus den USA, dank der die dortigen Gewerkschaften schöne Erfolge feiern – selbst in Sektoren ohne gewerkschaftliche Tradition. Nicht alle Gewerkschaften sind gleich aufgestellt, hält die ­Studie fest. In Ländern mit Betriebsrätinnen und -räten und turnusgemässen Wahlen in Arbeitnehmervertretungen konzentrieren sich die Verbände eher darauf, diese zu stärken. In Ländern ohne solche Strukturen bleibt mehr Raum für neuartige Basisarbeit.

Bringen gewerkschaftliche Zusammenschlüsse Vorteile? Sie können vielversprechend sein, wie die Studie zeigt. Verdi als vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft organisiert heute in Deutschland praktisch sämtliche öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Sie konnte so eine starke Stellung aufbauen. Auch die Unia wäre gewiss ein positives Beispiel. Ähnliche Tendenzen sind in Spanien oder in Belgien zu beobachten. Per se aber führen Verschmelzungen nicht automatisch zu einer Erneuerung, so die Studie.

FINANZIELLE POLSTER

Die meisten Gewerkschaften leben von Mitgliederbeiträgen. In Westeuropa am besten, wo über viele Jahre finanzielle Reserven aufgebaut wurden. In Osteuropa hingegen schlechter, weil dies im Staatssozialismus nicht möglich war. Eine Ausnahme ist Frankreich, wo die Gewerkschaften vergleichsweise mitglieder- und finanzschwach sind, aber trotzdem in Politik und Arbeitskämpfen eine grosse Wirkung entfalten können. Eine markante Wende ist die Strategie vieler Gewerkschaften, vermehrt Leute in schlechter bezahlten oder prekären Jobs zu organisieren.

Als neue Entwicklung diagnostiziert die Studie gewerkschaftliche Kampagnen in der Zivilgesellschaft, zum Beispiel für gesetzliche Mindestlöhne. Diese Strategie bietet sich an, wenn die ­Arbeitgeber jegliche Lohnfortschritte blockieren oder rechte Mehrheiten in den Parlamenten gewerkschaftsfeindliche Gesetze erlassen, um diese zu schwächen. In Ländern wie Portugal, Griechenland oder Rumänien, die von der Finanzkrise 2008 stark gebeutelt wurden, mussten die Gewerkschaften auf der politischen Ebene gegen neoliberale und unsoziale Lösungen antreten. Fazit: Wo nichts mehr von Sozialpartnerschaft übrig ist, bleibt nur noch der politische Kampf.

Jeremy Waddington, Torsten Müller and Kurt Vandaele (eds.): Trade Unions in the European Union. Picking up the pieces of the neoliberal challenge, 2023. Gratis-Download hier.

ETUI in Brüssel: Denk­fabrik der Gewerkschaften

Das European Trade Union Institute (ETUI) in Brüssel ist hierzulande wenig bekannt. Zu Unrecht, ist es doch eine bedeutende Denkfabrik des Europäischen Gewerkschaftsbunds. Es ist unabhängig, wird von der EU finanziell unterstützt und publiziert wichtige Forschungen zu gewerkschaftlichen Belangen. Es hat auch die grosse Studie über europäische Gewerkschaften herausgegeben (siehe Text). Ein Besuch der Website (englisch oder französisch) ist aufschlussreich.

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