Nahost: Gewerkschafter gegen Rassismus, Krieg und Terror

Dunkle Zeiten für beide Seiten

work

Auf das grausame Massaker durch die Terrororganisation Hamas folgte der ­Rachefeldzug Israels mit schon über 15 000 Toten in Gaza. Die neuste Eskalation im Nahostkonflikt ­beschäftigt auch die Unia, die etliche palästinensische und israelische Mitglieder hat. Viele haben Angst, sich öffentlich zu äussern – nicht aber Mouhammad Ali und Yshai Kalmanovitch.

Yshai Kalmanovitch «So schlimm war es noch nie!»

Foto: Stefan Bohrer

«Seit dem 7. Oktober geht in den jüdischen Gemeinden die Angst um. Jüdinnen und Juden wurden auf offener Strasse beleidigt, angespuckt und sogar geschlagen. Bei uns in Basel wurde der jüdische Friedhof beschmiert, in Zürich und anderen Städten tauchten Hakenkreuze auf. Der Antisemitismus explodiert! Nie hätte ich gedacht, dies in der Schweiz zu erleben. Es fühlt sich so an, als komme die Katastrophe immer näher. Ältere, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, sagen, so schlimm sei es seither noch nie gewesen. Wir Jüdinnen und Juden fühlen uns alleingelassen und einsam. Es gibt zwar Unterstützung, aber oft aus falschen Gründen. So spielen sich jetzt viele Rechte als unsere Freunde auf. In Wahrheit bedienen sie bloss ihre rassistische und islamfeindliche Agenda. Dagegen wehren wir uns dezidiert. Denn Juden und Muslime sind durch die gleichen Bedingungen gefährdet: Wenn man anfängt, die eine Minderheit zu diskriminieren, kommt irgendwann auch die andere Gruppe dran. Deshalb hat sich die israelitische Gemeinde auch klar gegen die Minarettverbot-Initiative ausgesprochen.

AUF DER SEITE DER MENSCHEN. Jetzt haben die Synagogen ihre Sicherheitsmassnahmen verschärft. Viele Gläubige geben sich nicht mehr als solche zu erkennen. Auch ich überlege mir neuerdings genau, ob und wann ich meinen Hut trage. Und dieses Problem stellt sich mir als Jude und nicht als Israeli.

Allerdings möchte ich betonen, dass die Gefahr nicht primär von Palästinensern ausgeht, sondern von Leuten, die die Situation im Nahen Osten gar nicht kennen. Im Gegenteil habe ich sehr viel Mitgefühl und Anteilnahme von palästinensischen Freunden erfahren. Das gibt mir Hoffnung. Leider sagen gewisse Leute: ‹Du bist Jude, also bist du ein Gegner.› Dabei gibt es bei uns so unterschiedliche Meinungen wie überall. Ich zum Beispiel bin immer für den Frieden eingetreten und habe als Kriegsdienstverweigerer viel dafür geopfert. Auch in der Schweiz habe ich kaum eine Palästina-Demonstration verpasst. Doch jetzt habe ich Angst. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich an Protesten im Ernstfall verteidigt würde. Dabei ist es doch eigentlich klar: Wir Lohnabhängige müssen zusammenstehen, und zwar auf der Seite der Menschen, nicht auf jener der Regierungen! Und ja: man muss gegen den Krieg kämpfen, aber nicht zusammen mit Antisemiten!»

Yshai Kalmanovitch (50) ist Doktor der Sprachwissenschaft und Klavierbauer. Der israelisch-rumänische Doppelbürger ist in Netanja bei Tel Aviv geboren. Seit zwanzig Jahren lebt er in Basel.


Mouhammad Ali«Wir sind Menschen, keine Zahlen!»

Foto: Matthias Luggen

Ich fühle mich einfach nur ohnmächtig. Und ich bin traurig, sehr traurig, fast schon depressiv. Ich kann einfach nicht abschalten. Ständig habe ich die Bilder des Grauens in meinem Kopf. Bis in meine Träume verfolgt mich der Krieg. Das Einzige, was mir gegenwärtig hilft, ist das Fitnessstudio. Ich trainiere jeden Tag.

Ich habe Verwandte in Gaza. Wie es ihnen geht, weiss ich nicht genau. Der Kontakt ist abgebrochen, es gibt kein Internet und keinen Strom. Ich weiss aber, dass ihre Wohnung angegriffen wurde. Jetzt sind sie obdachlos und nach Südgaza geflüchtet – so wie über eine Million weiterer Menschen. Doch auch dort ist es nicht sicher, sie hungern, und jetzt kommt auch noch der Winter. Eine Tante von mir ist bereits gestorben. Sie hatte Atemprobleme und wollte ins Spital. Sie hat es nicht geschafft – wegen der zerbombten Strassen und des allgemeinen Chaos. Doch selbst wenn sie es geschafft hätte, wäre sie wohl gestorben. Denn die Spitäler sind völlig überfüllt und haben weder Medikamente noch Strom.

Schlimm finde ich auch, dass die Welt zuschaut, wie jeden Tag unzählige Kinder getötet werden. Ich hätte nie gedacht, dass Kinderleben so wenig wert sind. Auch von den westlichen Medien bin ich enttäuscht. Sie berichten einseitig. Wir Palästinenser sind auch Menschen, keine Zahlen! Es ist ein Krieg zwischen Israel und der Hamas. Doch die Mehrheit im Gazastreifen, die Kinder und die normalen Leute, die können doch nichts dafür!

CHANCEN FÜR EINE ZUKUNFT. Was Krieg bedeutet, weiss ich leider genau. Ich bin in der syrischen Hauptstadt Damaskus aufgewachsen. Dorthin waren meine Grosseltern 1948 vertrieben worden. Zuvor lebten sie in der Stadt Tiberias am See Genezareth, der heute zu Israel gehört. 2011 begann der syrische Bürgerkrieg. Er dauert noch heute an und tobte damals mitten in meinem Viertel. Unser Haus wurde angegriffen. Wieder musste meine Familie fliehen. Über Libanon ging’s 2013 in die Schweiz, wo bereits ein Onkel lebte.

Was den Leuten in Syrien wie in Palästina fehlt, sind realistische Chancen auf eine Zukunft. Man darf nicht vergessen: Die Menschen im Gazastreifen sind seit 16 Jahren eingesperrt. Sie leben im totalen Elend und haben null Perspektiven. So kann es doch keinen Frieden geben! Was es braucht, sind gleiche Rechte für alle, gegenseitige Akzeptanz und Respekt.»

Mouhammad Ali (28) ist gelernter Heizungsmonteur und heute Magaziner bei Coop in Interlaken. Als Nachkomme palästinensischer Flüchtlinge ist er in ­Damaskus geboren. 2013 floh er in die Schweiz. In seinem B-Ausweis steht unter Nationalität: «keine».

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.