Der Frauenstreik 2023 war ein grandioser Erfolg: 300'000 Menschen protestierten auf den Strassen und in den Betrieben

Entsteht da gerade die Schweiz von morgen?

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Wie kam es zum erneuten Grossprotest am vergangenen 14. Juni? Was hat sich seit dem ersten grossen Frauenstreik 1991 verändert, was bleibt gleich, und übernimmt jetzt die jüngste Generation? work hat nachgefragt: bei Unia-Präsidentin Vania Alleva, die an vorderster Front für Gleichberechtigung kämpft, bei der Geschichtsprofessorin Regina Wecker, Geschlechterforscherin der ersten Stunde, und bei der Historikerin Anja Suter, die zur feministischen Geschichte arbeitet.

FRISCHER FRAUENWIND: Gegen Sexismus, sexualisierte Gewalt, Lohndiskriminierung, Rentenklau und mangelnde Wertschätzung der unbezahlten Care-Arbeit gingen an diesem 14. Juni wieder Hunderttausende – vor allem auch jüngere Frauen – auf die Strasse. (Foto: Marion Nitsch, Freshfocus)

Unia-Präsidentin Vania Alleva (53): Wieder ein historischer Tag, ein mächtiges Zeichen

GEWERKSCHAFTSCHEFIN: Vania Alleva ist Präsidentin der Unia und Co-Vizepräsidentin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). (Foto: Keystone)

Ich zehre noch heute von der gross­artigen Energie an diesem 14. Juni und der kraft- und lustvollen Stimmung. Wir wussten ja nicht, wie viele Frauen und solidarische Männer dem Ruf der feministischen Streikkomitees, linken Parteien und Gewerkschaften folgen würden. Schliesslich ist die politische Grosswetterlage heute weniger frauenfreundlich als 2019, als die #MeToo-Bewegung international viele mit sich riss. Doch es kamen wieder Hunderttausende!

Es gab über zwanzig Demonstrationen im ganzen Land, auch in kleineren Städten. Und Aktionen und Protestpausen in und vor vielen Betrieben. Insgesamt waren es über 50 allein von der Unia unterstützte Branchen- oder Betriebsaktionen. Und es gab sogar einen Streik von Reinigerinnen bei der Firma «SOS-Reinigungen» in Luzern, der noch am gleichen Tag einen Durchbruch brachte: Die Firma will die Missstände bei Lohnauszahlungen beheben und die Mobbing-Probleme angehen.

Mit anderen Worten: Es war wieder ein historischer Tag! Und wieder ein mächtiges Zeichen.

2019 WIRKTE NACH

Das straft all jene Lügen, die im Vorfeld des Frauenstreiks behauptet haben, ein solcher sei unnötig, weil die Gleichstellung längst erreicht sei und die Lohndiskriminierung inexistent. Es ist unsäglich, was uns die Arbeitgeber und rechten Parteien da alles auftischten und noch immer auftischen: Es gab eine frauenfeindliche Gegenkampagne von rechts. Und gibt sie noch. Und die Zürcher Medienhäuser übernahmen sie unkritisch. Und sie tun es noch. Zuletzt verbreiteten sie die These, die bürgerlichen Frauen seien vom Streik ausgeschlossen worden, weil die Linken ihn gekapert hätten. Ja, sie entblöden sich nicht zu behaupten, die Unia habe den Frauenstreik 2023 gekapert.

Offenbar haben die Rechten Angst. Offenbar hat sie der Frauenstreik 2019, an dem gegen eine halbe Million Frauen und Männer auf die Strasse gingen, nachhaltig erschreckt. Deshalb versuchten sie jetzt mit allen Mitteln, Gegensteuer zu geben. Nur: es ist ihnen gründlich misslungen. Denn Hunderttausende Frauen und Männer in der Schweiz sind immer noch hässig. Und sie haben allen Grund dazu.

FRUSTRIENDE FAKTEN

Statt vorwärts geht’s gleichstellungspolitisch neuerdings wieder rückwärts: bei den Löhnen, bei den Renten und bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das belegt jetzt auch der neuste «Global Gender Gap Report» des World Economic Forum (WEF), der die Schweiz in Sachen Gleichstellung um 8 Plätze zurückstuft. Unter anderem wegen des ungleichen Erwerbseinkommens zwischen Männern und Frauen.

Fakt ist: Das Einkommen der Frauen ist 43,2 Prozent niedriger als jenes der Männer. Das sind Zahlen des Bundesrats. Und die Frauen haben einen Drittel weniger Rente. Noch immer sind es die Frauen, die die Hauptlast für die Care-Arbeit tragen. Unbezahlt! Nämlich 5,5 Milliarden Stunden pro Jahr. In Franken umgerechnet entspricht diese Arbeit 315 Milliarden Franken.

Und trotzdem müssen die Frauen nach dem ultraknappen Ja zur AHV 21, das vor allem die Männer herbeigeführt haben, neuerdings noch länger arbeiten. Das ist nichts anderes als eine weitere Rentenkürzung. Und ebenso frustrierend wie die Tatsache, dass es auch eine strukturelle Lohndiskriminierung gibt: Je mehr Frauen in einer Branche arbeiten, desto tiefer sind dort die Löhne. Das ist statistisch belegbar. Genauso wie die männliche Gewalt, der viele Frauen ausgesetzt sind: Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Und jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Das ist die traurige Realität. Immer noch!

HOCH DIE LILA FAUST!

Aus all diesen Gründen intensivierte die Unia ihre Mobilisierungsanstrengungen für den Frauenstreik 2023. Da hat viel Arbeit stattgefunden, auch in den Regionen. Wir legten den Fokus diesmal noch stärker auf die Frauen in den Betrieben. So kam es zu mehr und sichtbareren Aktionen als 2019. Die riesige lila Unia-Faust, die am 14. Juni über dem Bundesplatz wehte, stand symbolisch für diese verstärkte Mobilisierung.

Und was wir aufgebaut haben, treiben wir jetzt weiter. Wir werden nicht nachlassen. Es braucht den Druck der Strasse über den 14. Juni hinaus. Und auch den Druck in den Betrieben. Sonst können wir die Rückschritte von rechts nicht brechen.

Berechtigte Hoffnung besteht: Denn in der Schweiz scheint sich gerade etwas gesellschaftlich Grundsätzliches zu verändern. Das hat der mächtige Frauenstreik 2023 gezeigt: Neue, starke und stark politisierte Generationen von jungen und sehr jungen Frauen kommen nach – und sie fordern eine sozialere, frauenfreundlichere, ressourcenschonendere und gerechtere Gesellschaft. Sie gehen dafür auf die Strasse und tun dies erst noch mit grosser Lust.
Entsteht da vielleicht gerade die Schweiz von morgen?


Historikerin Anja Suter (43): Entschlossen vielfältig und wütend beschwingt

HISTORIKERIN: Dr. des. Anja Suter ist Historikerin mit den Schwerpunkten feministische Geschichte, Geschichte der Arbeit und (post-)koloniale Geschichte der Schweiz. (Foto: ZVG)

Wir sind eine Wucht, stand auf einem Transparent, das am 14. Juni an einem Wagen befestigt durch Zürichs Strassen zog. Und so war es: Mit Wut und Leidenschaft nahmen sich auch dieses Jahr in der gesamten Schweiz Hunderttausende von Frauen, Mädchen, inter, non-binären und trans Personen die Strassen, legten Streikpausen ein oder Verkehrsknotenpunkte lahm. Sie prangerten die unhaltbaren Arbeitsbedingungen im Reinigungs- oder Gastgewerbe an. Sie kritisierten die Schweizer Politik, die mehr als einem Drittel der hier lebenden Menschen Mitbestimmungsrechte und soziale Sicherheit verweigert. Sie verurteilten die anhaltende, eklatante Lohndiskriminierung in nahezu allen Berufen und die ­notorisch zu tiefen Löhne im Pflege- oder Betreuungswesen (sogenannte Frauenbranchen). Sie forderten aktive Solidarität mit den Frauen in Iran, in Afghanistan oder dem Sudan. Sie machten ihrem Zorn über die kürzlich von einer Schweizer Männermehrheit beschlossene Kürzung der Frauenrenten Luft. Sie protestierten lautstark gegen alltäglichen und strukturellen Rassismus und Sexismus, gegen geschlechtsspezifische und rassistische Gewalt. Sie forderten Selbstbestimmung, Anerkennung und Respekt für Menschen mit Beeinträchtigung. Sie kritisierten die Schweizer Politik und Wirtschaft, die ­aktiv versagt, Demokratie lokal und international zu stärken und eine Asylpolitik voranzutreiben, die Geflüchtete als Menschen in Not behandelt, anstatt sie an Europas Grenzen in den Tod zu schicken. Und sie machten überdeutlich klar: Das Recht auf Abtreibung wird weiter vehement verteidigt: «My body, my choice – full stop!»

ANGSTEINFLÖSSENDE WUCHT

Es ist diese schiere Vielfalt, die branchen-, alters- und organisationenübergreifende Breite, die Empörung und zugleich die Freude am gemeinsamen Kampf, die diesen Tag und diese Bewegung ausmacht. Sexarbeiter:innen gemeinsam mit Kinderbetreuer:innen, Schüler:innen mit Rentner:innen, Sans-papiers mit Schweizer:in-nen. Und es ist diese «Wucht», die den Bürgerlichen Angst macht: Dem Streiktag vorausgegangen war ihr lautes Lamento, der 14. Juni sei von Gewerkschaften und Linken «gestohlen» worden. Interessant – oder vielmehr: brisant! – ist hier die aktive Amnesie: Der 14. Juni war von Anfang an ein Streik von Arbeiterinnen, viele von ihnen mit Migrationsgeschichte. Es waren Uhrenarbeiterinnen aus dem Vallée de Joux wie ­Liliane Valceschini, die gemeinsam mit der Smuv-Gewerkschafterin Christiane Brunner den ersten Frauen­streik 1991 und somit den bis dahin grössten Streik in der Geschichte der Schweiz anstiessen.

DAS GEGENTEIL VON SPALTUNG

Die feministische Kritik stellt auf vielfältige Weise herrschende Macht- und Ausbeutungsverhältnisse radikal in Frage. Kein Wunder, fürchten sich jene davor, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Bereits 1991 versuchten Bürgerliche und Rechte, den Frauenstreik und die Streikenden zu diffamieren. Dieses Jahr versuchen sie, eine Spaltung herbeizureden, weil der 14. Juni neu als «feministischer Streik» Geschichte schreibt. Dabei ­offenbart diese Umbenennung genau das Gegenteil einer Spaltung: Sie zeigt, dass Menschen, die sich weder als Frau noch als Mann definieren, aktiver Teil der Bewegung sind und dass sich auch Männer solidarisch am Streik beteiligen. Und sie zeigt, dass gerade heute rechte Attacken gegen LGBTIQ-Personen bekämpft werden müssen – und zwar entschlossen. Denn es sind überall auf der Welt stets die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen, die als erstes attackiert werden.

Wie es die Zürcher Aktivistin Sadaf Sedighzadeh in ihrer Rede auf den Punkt brachte. Unter dem Titel «Jin Jian Azadî» (kurdisch: Frau, Leben, Freiheit) brachte sie den feministischen Aufstand gegen das Mullah-Regime in Iran, der nach der Ermordung der Kurdin Jina Mahsa Amini ausbrach, mit der weltweit zunehmenden Gewalt gegen trans Menschen in Verbindung: «Wir sind alle Jina, weil Angriffe auf trans Menschen in den letzten Jahren so stark zugenommen haben, dass ich mir ernsthaft Sorgen um das Leben meiner Herzensmenschen mache. Wir sind alle Jina, und wir sind alle das Leben selbst (…) Jin Jian Azadi erkämpft uns Freiheit.»

Etwas beschwingter fasste es der Slogan, der auf dem T-Shirt einer Teenagerin prangte: «If you sexist me I’ll feminist you» – frei übersetzt beispielsweise: «Wenn du mir sexistisch kommst, zeige ich dir, was Feminismus heisst». Das Motto kann als Résumé des Tages und der leidenschaftlich-wütenden Stärke dieser breiten Bewegung gelesen werden – und zugleich als Aufforderung an dieselbe, diese Kraft immer wieder aufzubringen.


Historikerin Regina Wecker (79): Schon 1991 ging es um Kitas, Belästigung und Aufteilung der Hausarbeit

GESCHLECHTERFORSCHERIN: Regina Wecker ist emeritierte Geschichtsprofessorin der Uni Basel und massgeblich am Aufbau der Geschlechterforschung in der Schweiz beteiligt. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Lohnarbeit. (Foto: ZVG)

Den Streikknopf von 1991 habe ich noch. Und die Forderungen von damals? Die sind ja im Grunde noch die gleichen: Lohngleichheit, die gleiche Ausbildung für Frauen, die Bekämpfung der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, die Gleichstellung in der sozialen Sicherheit, mehr Krippenplätze, die Aufteilung der Hausarbeit zwischen Mann und Frau.

Der Kontext aber war 1991 ein anderer. Das Datum hatten die Frauen des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds gewählt, weil es das Gleichstellungsgesetz immer noch nicht gab, das die rechtliche Durchsetzung des Verfassungsartikels ermöglichen sollte, der am 14. Juni 1981 in die Bundesverfassung aufgenommen worden war. Der Arbeitgeberverband war sogar dagegen, dass es dieses Gesetz überhaupt geben sollte. Den Kommentar von SRF am Streiktag habe ich jetzt nochmals gehört. Schon damals hatte es mich genervt, dass man offensichtlich nur Frauen befragt hatte, die den Streik überflüssig fanden. Dabei hatten 500 000 diesen Streik nicht nur für nötig befunden, sondern sich auch beteiligt.

GEWALTIGER ERFOLG

Das Gleichstellungsgesetz wurde – endlich – 1996 in Kraft gesetzt und erleichtert seither die Durchsetzung des Verfassungsgrundsatzes. Klagen, insbesondere gegen diskriminierende Kündigungen und gegen Lohndiskriminierung, wurden möglich. Auch im Bereich der politischen Beteiligung von Frauen gab es inzwischen Fortschritte, von gleichberechtigter Vertretung konnte aber auch hier nicht die Rede sein. Die Befürchtung, dass sich das bei den im Herbst 2019 anstehenden Wahlen nicht ändern würde, war meiner Meinung nach einer der Gründe für den Zeitpunkt des zweiten grossen Frauen­streiks.

Lohn – Zeit – Respekt. Dass dieser Neuauflage der Forderungen aber ein so gewaltiger Erfolg beschieden war – es wird wieder von mehr als 500 000 Streikenden gesprochen –, war auch der #MeToo-Bewegung zu verdanken. Entsprechend nahmen die Forderungen nach Bekämpfung von sexueller Belästigung einen breiten Raum ein. In Erinnerung geblieben ist mir aber vor allem die Omnipräsenz des Logos des Frauenstreiks. Der prominenteste Ort in Basel war sicher der Roche-Turm, auf dem die Faust mit dem roten Daumennagel in Riesenformat prangte. Mit den Umbenennungen von Strassen nach Frauen wurde eine Aktion des Frauenstreiks 1991 – damals in der Westschweiz – wieder auf­genommen. Klar, hab ich mich über die Regina-Wecker-Strasse gefreut. Für die Wahlen im Herbst 2019 ging die Rechnung auf: Auf eidgenössischer Ebene, in den meisten Kantonsparlamenten und Regierungen wurden mehr Frauen gewählt.

Hoffentlich klappt es, diesen Erfolg im Wahlherbst nach dem Streik vom 14. Juni 2023 zu wiederholen. Er war ja ein beachtlicher Erfolg.

KNACKPUNKT FRAUENLÖHNE

Zwischen den beiden Streiks 2019 und 2023 lag die schwierige Coronazeit, in der die Wichtigkeit der Arbeit, insbesondere der Pflege-, aber auch der Verkaufsmitarbeitenden und all der Frauen (und Männer), die zusätzlich zum Homeoffice Kinder betreuten, überdeutlich sichtbar wurde.

Unmittelbar vor dem 14. Juni gaben zwei Veröffentlichungen zu reden: eine Interviewstudie mit Studentinnen der Universität Zürich und eine Lohnanalyse des Arbeitgeberverbandes. Die verkürzte und verfälschte Wiedergabe der Interviewstudie in der Presse behauptete, dass Frauen keine Führungspositionen übernähmen, weil sie gar keine Karriere wollten, und nicht, weil sie diskriminiert würden. Die Studie wurde heftig kritisiert, weil sie die Frage der Kausalität der Aussagen der Studentinnen nicht ein­bezieht und Geschlechterstereotype reproduziert. Die Lohnanalyse hatte einen kleineren Lohnunterschied als bisher angenommen gezeigt. Auch diese Studie wurde stark kritisiert, weil sie nicht berücksichtigt, dass Frauen kaum in die höheren Lohnklassen vordringen und Vergleichbarkeit also nicht vorhanden ist. Beide Studien – völlig unabhängig von­einander angelegt –- verweisen aber in­teressanterweise auf die Absenz von Frauen im besser bezahlten Arbeitsmarktsegment.

Was heisst das für die künftige Politik? Es geht nach wie vor um Löhne, es geht um bezahlbare Kita-Plätze und Arbeitszeiten. Es geht aber auch und vor allem um Arbeitsbedingungen: Arbeitsorganisation, Arbeitsinhalte, Strukturen und Hierarchien so zu ändern, dass sie es Frauen (und Männern) ermöglichen, in der Familienphase im Beruf zu bleiben und den Beruf bis 65 auszuüben – ohne Einbussen an Lebensqualität, Arbeitsqualität und ohne Dauerstress.

Dass 2023 so auffallend viele junge Frauen (und Männer) an den Aktionen teilnahmen, lässt mich hoffen, dass diese Veränderungen nicht weitere Jahrzehnte brauchen.

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