Zürich und Winterthur: Historische Niederlage für die Hungerlohn-Koalition

Das Volk will Mindestlöhne!

Clemens Studer

20’000 Menschen in Zürich und Winterthur haben bald ein bisschen kleinere Sorgen: Das Volk sagt in den beiden grössten Zürcher Städten Ja zu Löhnen, die zum Leben reichen. Drei Betroffene sagen, was das für sie bedeutet.

ENDLICH EIN BISSCHEN AUFATMEN: Für die drei Berufsfrauen Angela Siciliano, Ursula Alata und Elena Guarin ist der Mindestlohn-Entscheid eine grosse Erleichterung. (Fotos: ZVG / Nicolas Zonvi)

Die Ergebnisse sind überaus deutlich: Über 65 Prozent der Stimmenden in Winterthur und rund 70 Prozent in der Stadt Zürich wollen, dass in ihren Städten von einem 100-Prozent-Job gelebt werden kann. Und erteilten damit der Hungerlohn-Koalition aus SVP, FDP, GLP, Gewerbe- und Arbeitgeberverbänden eine empfindliche Lektion.

LOHN ZUM LEBEN

Wer Vollzeit arbeitet, muss von seinem Lohn leben können. Von dieser Selbstverständlichkeit können Hunderttausende in der Schweiz nur träumen. Für 20 000 von ihnen wird das Leben künftig materiell ein Stück leichter. In Winterthur soll niemand mehr pro Stunde weniger als 23 Franken verdienen, in der Stadt Zürich liegt der Stundenlohn künftig bei mindestens 23.90 Franken. Möglich gemacht hat das die deutliche Mehrheit der Stimmenden am 18. Juni. In beiden Städten hatten Gewerkschaften, fortschrittliche Parteien und Hilfswerke gleichlautende Initiativen für «einen Lohn zum Leben» eingereicht. In der Stadt Zürich kam es im Parlament zu einem Kompromiss, den auch Teile der Mitte mittrugen. In Winterthur blieb die Hungerlohn-­Koalition stur, lehnte die Initiative ab und verweigerte einen Kompromiss.

HUNGERLOHN-KOALITION

Gegen Löhne zum Leben traten die üblichen Verdächtigen an: SVP, FDP und GLP. Und natürlich Gewerbeverband und Gastrosuisse. Ihnen passen Mindestlöhne grundsätzlich nicht. Aus ideologischen Gründen. Da rühmen sie dann plötzlich die Gesamtarbeitsverträge, die sie sonst des Teufels finden und die von den Lohnabhängigen immer aufs neue erkämpft und verbessert werden müssen. Und da entdecken sie immer wieder andere geographische Voraussetzungen. Ganz egal, wie sehr sich diese widersprechen: Einen nationalen Mindestlohn lehnen sie ab, weil angeblich die Kantone das besser beurteilen können. Kantonale Mindestlöhne lehnen sie ab, weil nicht in jeder Region die gleichen Rahmenbedingungen gelten. Und städtische Mindestlöhne lehnen sie ab, weil diese in den Nachbargemeinden nicht gelten.

Die Arbeitgeber-Ideologen (er)finden immer neue Gründe, um gegen Mindestlöhne zu sein.

RECHTES ZEITSPIEL

Überall, wo das Volk bisher kantonale Mindestlöhne beschlossen hat, versuchten Arbeitgeber-Ideologen, diese auf juristischem Weg zu verhindern beziehungsweise zu verzögern. Zum Teil zogen sie Volksentscheide bis vor Bundesgericht. Dieses schützte die kantonalen Mindestlöhne – und die Volksrechte. Trotzdem hat der Stadtzürcher Gewerbeverband unter der Leitung der rechtsauslegenden Mitte-Politikerin Nicole Barandun schon vor der Abstimmung mit juristischen Mätzchen begonnen. Serge Gnos, Co-Regioleiter der Unia Zürich-Schaffhausen, lässt sich jedoch nicht beirren und sagt: «Jetzt braucht es bei Politik und Verwaltung den unbedingten politischen Willen, dafür zu sorgen, dass die Mindestlöhne so schnell wie möglich all diejenigen erreichen, die darauf angewiesen sind.»

NÄCHSTER ANGRIFF

Die Volksentscheide für Mindestlöhne in Kantonen und Städten ärgern die Koalition für Hungerlöhne enorm. Dar­um versuchen SVP, FDP, GLP und die Mitte, diese über Bundesrecht auszuhebeln. Im letzten Dezember überwies die rechtsbürgerliche Mehrheit im Nationalrat eine entsprechende Motion des Obwaldner Mitte-Ständerats Erich Ettlin. Der ist Steuerberater, Krankenkassen- und Finanzindustrie-Lobbyist. Er rangiert mit 16 bezahlten Lobbyämtern auf Platz 2 der aktuellsten Lobbywatch-Rangliste. Seine Motion trägt den heuchlerischen Titel «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen». Das Ziel: kantonale Mindestlöhne mit Billig-GAV aushebeln.


MindestlöhneDie Welle rollt

Die historischen Erfolge in Winterthur und Zürich stärken die Bewegungen für Mindestlöhne auch in anderen Städten: In Luzern ist eine Mindestlohn­initiative bereits eingereicht. Regierung und Parlament ­haben sie noch nicht behandelt. In Schaff­hausen wird noch dieses Jahr eine Mindestlohninitiative lanciert. Auch in Bern laufen entsprechende Gespräche von Gewerkschaften, fortschrittlichen Parteien und Hilfswerken.

AUCH IM OSTEN. Auf kantonaler Ebene ist ebenfalls einiges in Bewegung. So läuft seit gut einem Monat im Kanton Solothurn die Unterschriftensammlung für einen Mindestlohn von 23 Franken. In den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Appenzell Ausserrhoden haben Gewerkschaften, SP und Grüne vier Tage nach den Ja aus dem Kanton Zürich eine Mindestlohnpetition mit mehr als 1700 Unterschriften eingereicht. (cs)

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