Was den Arbeitgebern zum «Fachkräftemangel» einfällt

70 Stunden pro Woche arbeiten, bis es nicht mehr geht …

Clemens Studer

Die Arbeitgeber haben ihre alten Arbeitszeit-Forderungen aus der Schublade geholt. Und sich beim Abstauben nicht einmal besonders Mühe gegeben.

ENDLICH FEIERABEND? Der Arbeitgeberverband will, dass wir chrampfen bis zum Umfallen. (Foto: iStock)

Auf dem ganzen Erdenrund scheint es kein Problem zu geben, für das der Arbeitgeberverband nicht eine Lösung hätte. Blöd nur, dass es immer die gleiche ist: Arbeitsbedingungen verschlechtern, Arbeitszeiten verlängern.

Die aktuelle Herausforderung heisst «Fachkräftemangel». Die Antwort der organisierten Arbeitgeber darauf:

  • Länger arbeiten pro Woche (bis 70 Stunden).
  • Länger arbeiten pro Jahr (weniger Ferien).
  •  Länger arbeiten pro Leben.
  •  Mehr Sonntagsarbeit.
  •  Geldstrafen für teilzeitarbeitende Akademikerinnen und Akademiker.

So weit, so alt. Neu ist daran nur der Aufhänger: der «Fachkräftemangel». Konkret: Seit einiger Zeit müssen sich in vielen Branchen die Chefs Mühe geben, wenn sie Arbeitnehmerinnen halten und neue Arbeitnehmer gewinnen wol­len. Die vernünftigen Chefinnen verbessern darum die Arbeitsbedingungen. Denn die sind auch über die verweigerten Lohner­höhungen der vergangenen Jahre hin­aus zunehmend problematisch geworden. Viele Arbeitnehmende beklagen sich über Leerläufe und sinnlosen Stress an ihrem Arbeitsplatz. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Vorgesetzten in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt. Die weniger intelligenten Chefs jammern einfach weiter, und die Ideologen in den Verbänden wollen ­dagegen die Arbeitsbedingungen weiter verschlechtern.

Statt Fortschritte wollen die Arbeitgeber das Rad zurückdrehen.

PENSIONIERTE BABYBOOMER

Klar ist, dass die geburtenstarken Jahrgänge derzeit das Rentenalter erreichen. Und die Teilzeitarbeit nimmt zu. Auch weil die Erwerbsbeteiligung der Frauen erfreulicherweise steigt. Frauen, aber auch Männer, die hälftige Verantwortung bei der Kinderbetreuung übernehmen, können Arbeit und Familie oft nur mit einer Teilzeitanstellung vereinbaren. Wenn sie sich es leisten können und nicht in Tieflohnbranchen arbeiten.

NEUE SÜNDENBÖCKE

Wenn in immer mehr Branchen immer mehr Chefs immer weniger Leute finden, die für die angebotenen Arbeitsbedingungen arbeiten wollen, gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, die Stellen attrakti­ver zu machen. Zum Beispiel mehr Lohn und mehr Respekt. Stattdessen wollen die Arbeitgeber das Rad zurückdrehen. Und haben jetzt ein neues Feindbild entdeckt: gut ausgebildete Menschen, die es sich leisten können, Beruf und Privatleben dank Teilzeitpensen besser zu vereinbaren. Sie sollen einen Teil der Ausbildungskosten zurückerstatten, also faktisch eine Geldbusse bezahlen.

ECHTE LÖSUNGEN

Eigentlich müssten die Arbeitgeber von alleine darauf kommen, schliesslich wollen sie sonst ja ­immer machen, was «der Markt will».

Ansatz 1: Über 200 000 Erwerbslose sind auf Stellensuche, finden aber keine Arbeit.

Ansatz 2: Anständige Löhne, die zum Leben reichen. Das heisst: Keine Löhne unter 4500 Franken mehr für 100 Prozent Arbeit. Und wer eine Lehre abgeschlossen hat, muss mindestens 5000 Franken ver­dienen.

Ansatz 3: Ein Arbeitsumfeld, das die Arbeitenden ernst nimmt und sie respektvoll behandelt.

POSTI-ZETTEL DER VERBÄNDE

Die Forderungen der Arbeitgeber sind so weit von den gesellschaftlichen Realitäten entfernt und so weit von den Bedürfnissen der Lohnabhängigen, dass sie eigentlich ignoriert werden könnten. Leider geht das nicht. Weil was die Arbeitgeberverbände bestellen, über kurz oder lang ins Bundesparlament schwappt. Denn die Parlamentarierinnen und Parlamentarier von SVP, FDP, GLP und Mitte müssen etwas leisten für die Spenden und Nebenjöblis und den Postizettel der Verbände mit Vorstössen abarbeiten.

Die fortschrittlichen Parteien sind deshalb regelmässig mit Referenden gefordert. Und die Gewerkschaften in den Branchen bei den GAV-Verhandlungen. Denn dort versuchen die Chefinnen und Chefs als erstes, auszuloten, wie weit sie die «Zitrone Lohnabhängige» noch auspressen können.

1 Kommentar

  1. Franziska Hulliger

    Den Artikel habe ich im Newsletter von Avenir50plus gelesen und hat mich sehr angesprochen.
    Zum Artikel:
    Was ist los mit dem Schweizer Arbeitsmarkt – 265 000 Teilzeitarbeitende möchten Vollzeit arbeiten!
    In der Schweiz waren im Jahr 2022 4,5 Mio. Personen zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig, 7,8% mehr als 2012. Über ein Drittel davon arbeitete Teilzeit (1.7 Mio.). Zwischen 2012 und 2022 ist die Zahl der Teilzeiterwerbstätigen mehr als drei Mal so stark angestiegen wie jene der Vollzeiterwerbstätigen (+14,7% gegenüber +4,4%). Nebst den Frauen, die wegen der Kindererziehung in reduzierten Pensen verbleiben und Männern, die aus Gründen der Weiterbildung nicht Vollzeit arbeiten, sind es rund 265’000 Teilzeitarbeitende, die angeben, sie würden gerne Vollzeit arbeiten. Solange wir derart hohe Zahlen der Unterbeschäftigung auszuweisen haben, tönen Alarmglocken des Fachkräftemangels wie Schalmeienklänge.
    Mein Kommentar dazu:
    Wenn man bedenkt dass 265 000 Menschen (Dunkelziffer unbekannt)
    Eine Vollzeit-Arbeit möchten und nur eine Teilzeitbeschäftigung erhalten ist das schon traurig.
    Nennt man jetzt das unter dem Deckmantel=Fachkräftemangel?
    Was mir schon aufgefallen ist, das Arbeitgeber sei es im Verkauf, in der Gastronomie, Industrie usw. vermehrt und Bewusst nur Aushilfen gesucht werden. Somit sind die 265 000 Menschen gezwungen noch eine zweite oder sogar dritte Aushilfsstelle anzunehmen dass sie Geld haben zum Leben. An jeder Aushilfsstelle verdienen sie WENIGER als ein Jahreslohn von 22 050.- Franken pro Jahr. Somit fallen sie unter die Grenze der Pensionsgelder-Pflicht von seitens Arbeitgeber. Die Arbeitgeber machen das Bewusst dass sie KEINE Pensionsgelder bezahlen müssen und sorgen dafür das keine Aushilfe mehr als ein Jahresgehalt von 22 050.- Franken haben. Da haben wir eine weitere Armutsfalle im Alter.
    Grob gesagt beginnt man ja schon ab 18 Jahren in die Pensionskasse einzuzahlen bzw. ab dem 1. Januar nach Vollendung des 17. Lebensjahr. Aber aufgepasst: Dabei handelt es sich nur um die Beiträge für die Risiken Tod und Invalidität. Erst ab 25 Jahren bzw. ab dem 1. Januar nach Vollendung des 24. Altersjahr auch für die Altersvorsorge. Einfacher wäre es wenn man schon ab 18 Jahren auch in die Pensionskasse einzahlen könnte.
    Ein weiteres Fehlverhalten vom Bund und den Politikern ist die STAFFELUNG der ALTERSVORSORGE wo mir grosse Sorge bereitet.
    Heisst ab dem:
    Ab dem Alter von 25 – 34 zahlt man 7%
    35 – 44 10%
    45 – 54 15%
    55 – 64/65 18%
    Es ist menschenunwürdig und diskriminierend, wenn man ab 45 Jahren keinen Job mehr bekommt, nur weil man für die Arbeitgeber zu teuer ist.
    Seitens Arbeitgeber, was ich schon oben Erwähnt habe bewusst gemacht, dass sie entweder nur noch gezielt Aushilfen einstellen wo sie keine Pensionsgelder zahlen müssen, oder gar nicht mehr einstellen weil sie ab 45+ zu teuer sind. Es ist und wäre Sinnvoll und Dringend, die Altersgutschrift ( BVG ) so anzupassen, das unabhängig vom Alter der gleiche Ansatz gilt.

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