Anständiges Wohnen wird für immer mehr Haushalte zum Luxus

Wohnungsnot: Rezepte aus der Mottenkiste

Clemens Studer

Die Schweiz hat ein Wohnungsproblem. Das können auch die rechten Parteien und die Immo-Haie nicht mehr leugnen. Doch ihre Rezepte dagegen sind genau jene, die uns in diese Lage gebracht haben.

MIETENWAHNSINN: Für immer weniger bezahlbare Wohnungen müssen immer mehr Menschen Schlange stehen, wie hier in Zürich. (Foto: Keystone)

Die Schweiz hat die niedrigste Wohneigentumsquote Europas. Rund zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung wohnen zur Miete. Unterdessen sind die Wohnkosten der grösste Ausgabenposten in vielen Haushaltsbudgets. Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen ­geben mittlerweile zwischen 25 und 35 Prozent des verfügbaren Einkommens für Wohnkosten aus, also für Miete und Nebenkosten. Ab 40 Prozent spricht die Wissenschaft von «Überbelastung». Der Anteil der Haushalte, die sich dieser Grenze nähern oder sie gar überschreiten, wächst rasant und wird in den nächsten Monaten weiterwachsen. Denn ausser den Mieten steigen auch die Nebenkosten für Heizung und Elektrizität.

KONTROLLE ABGESCHAFFT

Steigende Mieten sind kein «Naturereignis», sondern eine Frage des Systems. Bis vor einigen Jahrzehnten hatte die Schweiz eine staatliche Mietpreiskontrolle. Auf Druck des Kapitals ­wurde diese standardisierte Überprüfung der Mieten abgeschafft. Seither müssen sich Mieterinnen und Mieter individuell gegen Miet-Missbrauch wehren. Was sie – aus guten individuellen Gründen – nur in sehr kleinem Mass tun. Denn wer will sich schon mit seinen Vermieterinnen undVermietern anlegen und riskieren, seine Wohnung zu verlieren?

Doch nicht nur die Kontrollen wurden abgeschafft. Die bürgerlichen Parlamentsmehrheiten der vergangenen Jahrzehnte rollten auch dem Finanzkapital den roten Teppich aus. Der damalige Justizminister Christoph Blocher (SVP) legte vor knapp 20 Jahren eine Vorlage unter dem Namen «Belebung des Kapitalmarktes» vor. Die Folge: Seit 2005 darf ausländisches Kapital über börsenkotierte Gesellschaften mit Schweizer Immobilien spekulieren. Seither sind Immo-Konzerne auf dem «Markt» im Vormarsch. Rücksichten kennen sie kaum. Sie und die Immobi­lienfonds der Grossbanken haben nur ein Ziel: möglichst viel Rendite aus Wohnungen und Geschäftsräumen zu pressen.

Das Problem der explodierenden Mieten ist weitaus grösser als das der verfügbaren Wohungen.

PLÖTZLICH WACH

Diese Probleme sind längst bekannt. Gewerkschaften, der Mieterinnen- und Mieterverband und fortschrittliche Parteien weisen seit vielen Jahren darauf hin. Doch der Hauseigentümerverband, die Finanzindustrie und die rechten Parteien verweigern sich jeder Lösung. Im Gegenteil: Sie verschlimmern die Lage der Mietenden weiter. Doch jetzt lässt sich das Marktversagen nicht weiter unter den Tisch kehren. Auch bürgerliche Medien thematisieren die Lage – wenn zum Teil leider auch rassistisch gefärbt (s. unten). Und sie geben den Verursachenden der Krise ausführlich Raum für vermeintliche Lösungen. Und die Vertreterinnen und Vertreter der Immobilienkonzerne, der Banken und der Versicherungen lassen sich nicht lumpen – mit Vorschlägen aus der Mottenkiste. Sie wollen die Probleme lösen mit: noch weiterem Abbau der Mieterrechte, mit Abbau des Lärmschutzes, mit Abbau der Bauordnungen und so weiter und so fort. Kurz gesagt, mit allem, wovon Wohnungsspekulanten schon immer geträumt haben.

Mehr zur Miet-Misere

work beschäftigt sich regelmässig mit der Situation der Mietenden. Unter anderem hier:

Zu all dem lässt sich eigentlich nur eines sagen: Wenn die bestehenden Gesetze ein so grosses Problem sind, warum wurde dann in den ­vergangenen Jahren unter diesen angeblich so behindernden Vorgaben so viel gebaut? So viel, dass während Jahren über zu viel leer stehenden Wohnraum gejammert wurde? Und tatsächlich zeigt die Kurve der Leerwohnungsziffer zwar nach unten, doch noch ist die Schweiz weit weg von einem historischen Tief.

PROFITE BEGRENZEN

Fakt ist: Das Problem der explodierenden Mieten ist weitaus grösser als das der verfügbaren Wohnungen. Und dieses Problem existiert, weil immer mehr Immobilien im Besitz von profitgetriebenen Konzernen und Fonds sind. Sie haben aus dem Menschenrecht Wohnen eine Ware gemacht. Was es jetzt mehr als je braucht, ist das Gegenteil von dem, was rechte Parteien und ihre Sponsorinnen und Sponsoren wollen. Es braucht unter anderem mehr gemeinnützigen Wohnungsbau, wieder Mietzinskon­trollen und eine wirksame Begrenzung der Profite der Immo-Haie.

NEIN! Weder in Seegräben ZH noch in Windisch AG «landen Schweizer Bürger auf der ­Strasse, weil ihre Wohnungen für Asylbewerber gebraucht ­werden». Auch wenn die SVP und die ihr gewogenen Aargauer und Zürcher Zentralredaktionen das behaupten (s. unten).


Falschmeldungen SVP bastelt sich «Skandale»

«Schweizer raus, Asylbewerber rein», eine Schlagzeile, wie sie Rechte lieben. Auch wenn sie erfunden ist. Wie in den «Fällen» Seegräben ZH und Windisch AG. Beide Fälle sind auch ein Beispiel dafür, wie eilfertig Aargauer und Zürcher Medien die SVP-Propaganda befeuern.

Beginnen wir mit den Fakten: In Seegräben hat eine rechtsbürgerliche Dorfregierung einem Mann die 5,5-Zimmer-Gemeindewohnung gekündigt, weil sie angeblich für Asylsuchende gebraucht würde. Doch diese Begründung stimmt schlicht nicht. Die Gemeinde hat sich angeblich «verrechnet». Bemerkenswerterweise zog sie die Kündigung auch dann nicht zurück, als der «Rechnungsfehler» durch den Kanton aufgedeckt wurde.

Der Grund sind nicht Asylsuchende, sondern die Profitmaximierung auf dem Wohnungs-«Markt».

In Windisch drängte SVP-Gemeindepräsidentin Heidi Ammon am 27. Februar um 10.57 Uhr an die Öffentlichkeit. Die Medienmitteilung beginnt so: «Der Kanton Aargau plant im Gebiet Zelglistrasse/Mülligerstrasse eine Asylunterkunft für rund 100 Personen. Um die Asylsuchenden unterbringen zu können, hat der Eigentümer der Liegenschaften die Mietverträge der bisherigen 49 Mieterinnen und Mieter per Ende Juni gekündigt. Der Gemeinderat Windisch ist zutiefst schockiert.» Ammon setzte damit den Ton, auf den die einschlägigen Medien noch so gerne aufsprangen. Zuerst die AZ-Medien, die keine Stunde brauchten (online 11.50 Uhr), um die Medienmitteilung zu einem Artikel aufzublasen. Null Recherche, dafür innert kurzer Zeit Dutzende Kommentare. Tonalität: «Die eigenen Leute bleiben auf der Strecke», «Wohncontainer sind halt zu wenig luxuriös für Flüchtlinge …», «Es ist beschämend, wie mit uns Schweizern umgegangen wird! Wir werden gezwungen/genötigt, uns den fremden Kulturen anzupassen.»

ABBRUCH WEGEN EINES NEUBAUS. Bei so einem Click- und Aufregungsturbo wollte «20 Minuten» aus dem Hause Tamedia natürlich nicht abseits stehen. Um 12.51 Uhr ging dort der erste Beitrag online. Schlagzeile: «49 Mieter müssen Wohnungen wegen Asylunterkunft verlassen.» Auch hier: keine Recherche, im wesentlichen einfach das Windischer Communiqué umgeschrieben. Und auf den «Fall Seegräben» verwiesen. Und auch hier: innert kürzester Zeit Dutzende hetzende Kommentare.

Nachdem am Tag der Windischer (Falsch-)Meldung auch das SRF-Re­gionaljournal im Sinne der SVP-Gemeindepräsidentin berichtet hatte, recherchierten die Journalistinnen und ­Journalisten tags darauf. Und erhielten von der Immobilienfirma folgende Auskunft: Die Wohnungen seien in einem schlechten Zustand und müssten abgebrochen werden. Stattdessen soll ein Neubau entstehen. Und, zentral: «Nur aus diesem Grund haben wir den Mieterinnen und Mietern gekündigt.»

Die ganz alltägliche Profitmaximierung auf dem Wohnungs-«Markt» also. Aber davon reden manche Medien ebenso ungern wie die SVP. (cs)


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