Ernes Europa

EU-Mindestlohnrichtlinie III: Neue soziale Standards

Roland Erne

Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin.

Was bringt die neue EU-Mindestlohnrichtline für Beschäftigte in der Schweiz? Vorerst nichts, denn die EU-Kommission verlangt nicht, dass die Schweiz das Arbeitsrecht der EU übernimmt. In den bilateralen Verträgen mit der EU geht es um den gegenseitigen Marktzugang und nicht um die sozialen Leitplanken, die eigentlich auch zum EU-Binnenmarkt gehören. Das ist ein Konstruktionsfehler. Und deshalb gibt es die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz.

Die EU-Mindestlohnrichtlinie ist dennoch wichtig für alle Menschen, die in der Schweiz arbeiten, denn sie setzt neue soziale Standards, die weit über die EU-Grenzen hinauswirken. Besonders im Bereich der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Verlangt doch die EU-Richt­linie, dass 80 Prozent aller Beschäftigten einen GAV haben. Die Schweiz müsste also doppelt so vielen Beschäftigten einen GAV garantieren. Und der neue EU-Referenzwert für angemessene Mindestlöhne entspricht in etwa der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Genf.

80 Prozent aller Beschäftigten müssen einen GAV haben.

TRENDUMKEHR. Nachdem neoliberale Politikerinnen und Politiker jahrzehntelang den GAV schlechtgeredet haben, läutet die EU-Richtlinie eine weltweite Trendumkehr ein. Den Anfang machte mit Australien ausgerechnet ein neoliberales Land, das kaum weiter von Brüssel entfernt sein könnte. Wäre die EU nicht mit gutem Beispiel vorangegangen, hätte der australische Senat vor kurzem kein «Fair Work»-Gesetz verabschiedet, das firmenübergreifende GAV stärkt.

Zudem verlangt die neue EU-Richtlinie nicht nur angemessene Mindestlöhne und mehr GAV, sondern auch einen besseren Lohnschutz. Dies ist wichtig, da recht haben und recht bekommen nicht dasselbe ist, besonders am Arbeitsplatz. Wie in der Schweiz erlaubt nun auch die EU-Richtlinie Konventionalstrafen gegen Firmen, die keine GAV-Löhne zahlen. Zudem können die Behörden bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen Firmen ausschliessen, die sich nicht ­an gesetzliche Mindestlöhne und GAV-Löhne halten. Auch müssen Arbeit­geber den Gewerkschaften künftig ­
den Zugang auf das Firmengelände ­erlauben.

GUMMIPARAGRAPH. Dennoch müssen nationale Lohnschutzmassnahmen laut der EU-Richtlinie weiterhin nicht nur «effektiv» und «abschreckend» sein, sondern auch «verhältnismässig». Dank diesem Gummiparagraphen besitzen Arbeitgeber und EU-Kommission auch künftig Mittel, um allzu re­striktive Lohnschutzmassnahmen vor dem Europäischen Gerichtshof auszuhebeln. Deshalb werden Beschäftigte in der Schweiz auch künftig auf eigenständige, flankierende Massnahmen zum Lohnschutz angewiesen sein.

4 Kommentare

  1. Ludwig Zurbriggen

    Lieber Roland

    Das sind sehr gute Nachrichten. Ein deutlicher Richtungswechsel in der EU-Arbeitspolitik. Das eröffnet Möglichkeiten für eine Verbesserung des Lohnschutzes in der Schweiz. Eine Rückfrage: Gilt der Zielwert von 80% für die GAV-Abdeckung für alle Mitgliedstaaten oder nur für jene ohne Mindestlohngesetz?

    Freue mich auf deine nächste Kolumne.

    • Lieber Ludwig

      Der Zielwert von 80 Prozent für die GAV Abdeckung gilt für alle Mitgliedstaaten

      Beste Grüsse

      Roland

  2. Natalie Imboden

    Eine Stärkung der Gewerkschaften bring auch die neue EU-Gesetzgebung zur Lohntransparenz. Konkret müssen Unternehmen handeln, wenn ihr geschlechtsspezifisches Lohngefälle über 5 % liegt und zwar müssen sie dann in Zusammenarbeit mit ihren Arbeitnehmervertretern eine gemeinsame Lohn- und Gehaltsbewertung durchführen. In der Schweiz kennt das Gleichstellungsgesetz keine solche Verpflichtung die Gewerkschaften einzubeziehen. Das muss sich ändern!
    https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20230327IPR78545/lohngefalle-parlament-nimmt-neue-regeln-fur-mehr-lohntransparenz-an

    • Liebe Natalie
      Ja dieser neue Richtlinien-Vorschlag ist ein großer Schritt zu mehr Lohntransparenz. Er macht Schluss mit dem Lohngeheimnis und gibt allen das Recht auf Informationen über die Entlohnung in der eigenen Beschäftigungskategorie
      Jetzt muss der Ministerrat den Text nur noch förmlich billigen
      Beste Grüsse
      Roland

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