Zum Tod von Journalist und Ex-work-Redaktor Michael Stötzel

«Mensch, ich werd auch nicht mehr jünger!»

Marie-Josée Kuhn

Michael Stötzel konnte Not, Unrecht und Unterdrückung nicht akzeptieren. Niemals! Auch nach Feierabend nicht. Nun ist er 74jährig gestorben.

UNZERTRENNLICH: Michael Stötzel mit seiner langjährigen Begleiterin Gretchen. (Foto: Nina Seiler)

Weilte Michael Stötzel noch unter uns und erführe von seinem Tod, er würde bestimmt sagen: «Nu brat mir nen Storch!» Und ungehalten nachschieben: «Wieso sterben alle? Was soll denn dieser Scheiss?»

Deutsche Kraftworte gegen Unglück und Leid. Dabei war Michael ein grosser Sensibler, ein Kümmerer. Politisch und privat. Er half, wo er konnte. Denn er war einer, der Not, Unrecht und Unterdrückung nicht akzeptierte. Niemals! Nicht diesseits des Äquators und auch nicht jenseits. Stötzel litt am Gang dieser Welt. Auch nach Feierabend. Und auch am Sonntag.

Für den Stötzel gab es so was wie Work-Life-Balance nicht, da konnte der Mann mit dem Dackel nur ungehalten seinen Blondschopf schütteln und zu seinem Hund runterbrummen: «Was ist denn das wieder für ein Mist, Gretchen?» Und der Redaktionshund wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Für sein Herrchen war das Schreiben eben das Leben. Gretchen wusste das.

Für Michael Stötzel war das Schreiben das Leben.

JÄGER UND SAMMLER

In den wilden 68ern bricht Michael als Student auf, dem alles fressenden Kapitalismus das Fürchten zu lehren. Mit der Waffe der Aufklärung. «Das muss man den Leuten doch mal erklären», sagte er auch später ständig. Erklären, wie das so war in dieser nicht entnazifizierten Bundesrepublik. Stötzel war das ­politische Kind von «Nie wieder Deutschland!» Der antifaschistischen Bewegung von damals. Nationalismus und Rassismus waren ihm ein Greuel. Als SVP-Vordenker Christoph Mörgeli 2006 nach einem rassistischen Übergriff von den «Eiterbeulen der Multi-Kulti-Gesellschaft» redet, notiert Stötzel im work: «Für diese Wortwahl gibt es nur einen passenden Begriff: Nazidreck.»

Auf Arroganz und Überheblichkeit reagiert Michael allergisch. Der Anspruch der Deutschen, die EU anzuführen und die Länder des Südens mit ihren Sparvorgaben zu ersticken, «kotzte» ihn an. Und trotzdem war er einer von ihnen, ein Schalke-Fan, ein Ruhrpottler, einer, der die deutsche Sprache gottlob auch in der Schweiz nie abstreifte für ein schrilles «Grüzi!».

ZWEI SEELEN, ACH!

1948 kommt Michael Stötzel in Essen zur Welt. Von seinem Vater, dem Leiter des Botanischen Gartens von Essen, nimmt er viel Wissenswertes über Rosenzucht mit. Ja, mit Michael konnte ich auch über Rosen reden. Oder über Schneekugeln, von denen er eine Sammlung zu Hause hatte. Eigentlich war Michael Stötzel ein Jäger und Sammler. Ein wandelndes Lexikon. Alles, was ihm in die Finger kam, las er. Doch obwohl er meistens alles besser weiss als andere, ist er kein Besserwisser. Eher bescheiden und scheu.

Einmal in einer Retraite mussten wir unter der Anleitung einer Frau Coach als Teamübung die Umrisse Afrikas zeichnen. Plus die Umrisse aller afrikanischen Staaten und ihre Hauptstädte. Michael verdrückte sich nach hinten in eine Ecke, um von dort aus aber immer wieder einzugreifen, wenn wir vorne am Flipchart nicht mehr weiterwussten. Schliesslich zwangen wir ihn nach vorne an den Filzstift. Er löste die Aufgabe praktisch im Alleingang. Nur bei zwei Hauptstädten zögerte er und seufzte: «Mensch, ich werd auch nicht mehr jünger!»

In Bonn studiert Michael Völkerkunde und geht ins Feld: ethnologische Forschung bei den Guarayos, südamerikanischen Guarani-Indi­genen aus Tieflandbolivien. Später zieht er nach Berlin. Als Auslandredaktor schreibt er dort bei der sozialistischen «Neuen». Springt aber bald schon nach Zürich ab, wo er bei der WOZ anheuert.

Nach 15 Jahren WOZ folgt Stötzel 2002 dem Ruf von work, amtet als Allrounder, später als mein Stellvertreter. Über seinen grossen Sprung in die Schweiz sagte Michael mir mal: «Schon verrückt, ich kam ja in die Schweiz, um weniger Deutsche um mich zu haben. Doch jetzt, wo immer mehr Deutsche nach Zürich strömen, holen sie mich hier wieder ein.» Und als mal so ein richtig währschaftes Exemplar von einem deutschen IG-Metaller im work aufkreuzt und schenkelklopfend loslegt, flüstert Stötzel mir zu: «Gell, genau das meint ihr jeweils damit, wenn ihr ‹Sauschwabe› sagt, oder?»

Michael, der Skrupulöse, der Konfliktscheue: Er bedachte immer alles und hatte stets Bedenken. Zu Forsches mochte er nicht, man könnte ja irgendwen vor den Kopf stossen, irgendwem schaden. Das war die eine Seele in seiner Brust. Doch da gabs noch eine zweite.

«Wissen zu wollen, was los ist», sagte Stötzel, das sei, was ihn als Journalist antreibe. Kein Thema war ihm zu unsexy, zu komplex oder zu klein. Er wolle schliesslich «keinen Blumentopf» gewinnen, sagte er. Clickbaiting und Sauglattismus waren ihm zuwider. Ein Stötzel wollte es einfach wissen, um es anderen erklären zu können. Was sogenannte Minusstunden auf dem Bau sind. Oder wie genau Asbest tötet.

Immer wieder rückt Stötzel auch aus, dorthin, wo Betriebe ­beben. Wegen einer angedrohten Schliessung, Massenentlassung oder Verlagerung ins Ausland. Und regelmässig wachsen ihm die Protagonistinnen und Protagonisten seiner Geschichten ans Herz. «Die Unseren», sagt er jeweils an der Redaktionssitzung. «Unsere Zylissianer». «Unser Bauzausel».

Wissen zu wollen, was los ist: das trieb den Journalisten Stötzel an.

HINFERKELN

Über Jahre verfolgt Michael die Arbeitskämpfe im Bau. Den grossen Baustreik von 2002, den historischen Durchbruch bei der Frühpensionierung mit 60. Drei Baumeisterchefs hat Stötzel im Laufe der Zeit wachsam auf die Finger geschaut. Bei einem erreicht er mit seiner Kritik sogar, dass dieser nicht mehr mit ihm reden will. Es ist Hardliner Werner Messmer, evangelikaler Freikirchler und FDP-Nationalrat. 2008 betitelt Michael seinen Bau-Knatsch-Artikel mit: «Jetzt steht der Konflikt auf Messmers Schneide». Ja, schneidend sind Stötzels Worte fürwahr.

«Hinferkeln» war auch so ein Stötzelismus. Auf ins Verderben, aber bitte selbstironisch! Witz um zwei Ecken herum und britisches Understatement: Michael schwang eine elegante, scharfe, saugute Klinge. Und diese führte eindeutig die zweite Seele in seiner Brust. Einst schrieb er in einem angriffigen Editorial, viele würden sich bestimmt freuen, wenn dieser «Unflat Stötzel» mal weg sein werde. Da hat er sich getäuscht. So was von getäuscht!

2 Kommentare

  1. Ernst Buchmüller

    Danke, liebe Marie-Josée für Deinen wunderbaren Artikel zum Tod von Michael Stötzel. Du hast so viele Facetten seiner Persönlichkeit angesprochen. Das Lesen war für mich fast wie ein Gespräch mit ihm. Ganz herzlich ernst buchmüller

  2. Felix Schneider

    Paradoxerweise hat er mir die Rückkehr ins vertraut-verhasste Land namens Schweiz erleichtert. Bei ihm hab ich mich wohlgefühlt. Gerade seine permanent neu angerührte Mischung von Kritisch und Versöhnlich war spannend. Warum nur musste er gehen?

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